Zusammengestellt vom Ortsheimatpfleger Arnold Plesse.
Bearbeitungsstand: 27.05.2007
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Ärbarmung

- ostpreußischer Jahrgang 1923

Horst Zlomke schreibt Chroniken von Orten in seinem Heimatkreis Preußisch Holland im ehem. Ostpreußen

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zlomke
von Horst Zlomke, Lunestedt (früher Opitten, Ostpreußen)

Vorwort von Horst Zlomke zu seiner Chronik der Landgemeinde Krapen (= eine der Veröffentlichungen des Projektes der "Gemeinde- und Kirchspieldokumentation" der Gemeinden des Kreises Preußisch Holland):

Die Elchschaufel kündet von Ostpreußen, einem Land von der Größe der Schweiz, einstmals eine Kornkammer des deutschen Reiches. Mehr als 2.000 Jahre war dieses Land prussisch und danach bis 1945 - fast 700 Jahre - deutsch. Solches steht unauslöschlich im Buch der Geschichte.

Die ältere Vertriebenengeneration hatte in der Hoffnung gelebt, wieder in die angestammte Heimat, die Heimat ihrer Vorfahren, zurückkehren zu können. Über Jahrzehnte haben Politiker und Parteien sie in dieser Hoffnung bestärkt. Paul Löbe (SPD) erklärte am 13. Juni 1950: "Niemand hat das Recht, Land und Leute preiszugeben". Beim Deutschlandtreffen der Schlesier 1963 bekundete die SPD "Verzicht ist Verrat" und "das Recht auf Heimat darf man nicht für ein Linsengericht veräußern". Im gleichen Tenor tönte es durch die deutsche Parteienlandschaft. - Die ältere Personengruppe hat es daher unterlassen, im Glauben an die Rückkehr in ihre Heimat, diese literarisch besonders zu verewigen. Wir, die jüngeren der Erlebnisgeneration, die wir in der angestammten Heimat unsere Jugend und so manche Hoffnung zurückgelassen haben, sind bemüht, dieses verlorene Paradies vor dem inzwischen politisch gewollten Vergessen zu bewahren. Solches geschieht zum Teil durch Chroniken. Chroniken, die durchaus nicht den Anspruch erheben, literarisch anspruchsvoll zu sein, die jedoch einst gelebtes Leben anschaulich vermitteln und sich nicht nur in geschichtlichen Zahlen erschöpfen.

Ich berichte in meinen Chroniken über Orte der Kirchengemeinde Königsblumenau. Diese Kirchengemeinde war im Kreis Preußisch Holland, im ostpreußischen Oberland, einer fruchtbaren und reizvollen Region, gelegen. - Das Städtchen Preußisch Holland galt als das Rothenburg Ostdeutschlands.


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Leserbrief für "Preußische Allgemeine Zeitung, Das Ostpreußenblatt", 22.4.2006

(In diesem Leserbrief gibt Horst Zlomke sich als zorniger Vertriebener zu erkennen. Sehr enttäuscht ist er von deutscher Politik. Die Preußische Allgemeine Zeitung druckte seinen Text unter der Überschrift "14 Millionen deutsche Vertriebene, 14 Millionen Einzelschicksale")

Geben wir ihnen endlich einen Platz in unserer Mitte!

Etwa vierzehn Millionen Deutsche wurden im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer angestammten Heimat vertrieben, die größte und konsequenteste Völkervertreibung der bisherigen Menschheitsgeschichte, ein unverjährbares Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das waren vierzehn Millionen Einzelschicksale, war vierzehn millionenfaches erduldetes Leid. Etwa vier Millionen der Vertriebenen sind dabei alle erdenklichen Tode gestorben.

Deutschland ist das einzige Land der Welt, welches sein verwerfliches Tun in der Vergangenheit in einer monumentalen Gedenkstätte, dem Holocaust-Denkmal, dokumentiert, ein Land, das in der Erstellung unzähliger kleinerer Gedenkstätten einen Ideenreichtum entwickelt hat. Und mit hohem finanziellen Aufwand unterhält es sowjetische Ehrenmale. Das Letztere kommt einer Verhöhnung abertausender Deutscher gleich, welche die Rotarmisten erlitten hatten.

Dass Deutschland der Auslöser des Zweiten Weltkrieges war, ist unabstreitbar. Doch ist es dadurch auch der einzig Schuldige an diesem Krieg? Asher ben Nathan, der einst israelischer Botschafter in Bonn war, vertrat die Meinung: "Entscheidend ist bei einem Krieg, was den ersten Schüssen vorausgegangen war." Bezüglich des Beginns des Zweiten Weltkrieges müsste man zurückgreifen auf den Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919. Durch diesen erfolgten Gebietsabtretungen vom Deutschen Reich, ohne der betroffenen Bevölkerung das Selbstbestimmungsrecht einzuräumen, wie es auch bei der Einrichtung des polnischen Korridors geschah. Unter nachträglicher Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes gedachte Hitler das Korridorproblem zu lösen, zumal die dortigen Deutschen erheblichen polnischen Schikanen ausgesetzt wurden, sodass sie bereits in großer Zahl ins Deutsche Reich geflüchtet waren. Polen war zu einer solchen Regelung nicht bereit, ging dessen Streben doch in eine andere Richtung. Bereits am 9. Oktober 1925 schrieb die Zeitung "Gazeta Gdansk": "Polen muss darauf bestehen, dass es ohne Königsberg, ohne ganz Ostpreußen nicht existieren kann. Wir müssen jetzt in Locarno fordern, dass ganz Ostpreußen liquidiert wird. Sollte dieses nicht auf friedlichem Wege geschehen, dann gibt es ein zweites Tannenberg. ..." - Der Generalinspektor der polnischen Armee Marschall Rydz-Smigly erklärte 1939: "Polen will den Krieg mit Deutschland, und Deutschland wird ihn nicht verhindern können, selbst wenn es das wollte." Die Situation ist dann 1939 weiter eskaliert, Teilmobilmachung der polnischen Armee bereits im Frühjahr gleichen Jahres, Beschuss deutscher Verkehrsflugzeuge durch polnische Schiffe über der Ostsee und dergleichen mehr.

Auf jeden Fall war Hitlers Politik, war der Zweite Weltkrieg nicht die Ursache der Vertreibung der Deutschen aus Ostdeutschland, sondern eine willkommene Gelegenheit für die Polen ihre Expansionspolitik zu verwirklichen. - Und bescheiden sind sie in ihren Ansprüchen keineswegs, beanspruchen Entschädigung für das Gebiet, welches sie sich 1920 unter Anwendung von Waffengewalt und ohne Kriegserklärung im Osten angeeignet hatten, das dann im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg aber an die Sowjetunion zurückgegeben werden musste. Die polnische Bevölkerung war da eine Minderheit gewesen. Für drei von dort ausgesiedelte Polen sind dann zwanzig Deutsche vertrieben worden.

Die Polen, sie waren nie schüchtern in der Interpretation der deutsch-polnischen Geschichte. Von ihnen wird das Thema Vertreibung der Deutschen weitgehend tabuisiert bzw. als Umsiedlung verharmlost. Und die polnische katholische Kirche stimmt mit eiskaltem Herzen in diesen Tenor ein. 1965 forderte z. B. der Erzbischof von Breslau Komenek in einer Denkschrift die ostdeutschen Gebiete als Lebensraum für das polnische Volk. - (Bevölkerungsstand 1961: Polen 87 Personen, Deutschland 217 Personen je Quadratkilometer).

Lassen wir doch endlich ab von der Rolle des ewig Schuldigen, von einer Vergangenheitsbewältigung, welche geschichtliche Wahrheiten verschüttet, uns eine Kollektivschuld suggeriert, einem gesunden Nationalbewusstsein abträglich ist und Deutschland weiterhin erpressbar hält. - In diesem Zusammenhang fehlt mir das Verständnis für unsere Bundeskanzlerin, die Anfang diesen Jahres den Polen einhundert Millionen Euro zukommen ließ. Übrigens vermittelte das Treffen des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski mit unserer Bundeskanzlerin keineswegs den Eindruck, dass darüber polnischerseits Freude aufkam.

Geben wir unseren Vertreibungsopfern endlich einen Platz in unserer Mitte und lassen ihnen ein würdiges Gedenken zuteil werden. Mir fehlt jedes Verständnis dafür, dass bei solch einer, unser Volk betreffenden Gedenkstätte, Polen und Tschechen, den Vertreiberstaaten, hierbei gleichsam ein Mitspracherecht eingeräumt wird.


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Ärbarmung

Im August 1995 begann Horst Zlomke mit der Veröffentlichung von Chroniken des ehemaligen Kreises Preußisch Holland. Aber vorweg schrieb er das Buch "Ärbarmung", in dem er die Geschichte der Familie Zlomke darstellte.
Nachstehend Auszüge aus diesem Buch:


Ich möchte mit den nachfolgenden Erzählungen dazu beitragen, dass das Gedenken an ein wunderbares Land, an Ostpreußen, aufrechterhalten bleibt Das hat nichts mit romantischer Sentimentalität oder Gefühlsduselei zu tun, sondern soll dem jetzigen Zeitgeist, der fast diktatorisch auf ein Vergessen dieses Landes zielt, unhistorisch Ostdeutschland nach Mitteldeutschland verlegt und Heimattreue verhöhnt, ein wenig entgegenwirken. Über 700 Jahre deutscher Geschichte und darin aufgegangen mehr als 2.000 Jahre preußischer Geschichte sind eine nicht zu leugnende Realität. Man kann diese nicht wegdifferieren und der Vergessenheit anheimfallen lassen.

Geschichte aufarbeiten heißt, sie beim Namen zu nennen. Das bedeutet, sie nicht aus dem Zusammenhang zu reißen, sondern die Geschichte in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Die Deutschen werden dann nicht nur als Täter, sondern in hohem Maße auch als Opfer in Erscheinung treten. Somit komme ich nicht umhin, auch von Flucht, Vertreibung, von erlittenen Demütigungen und Grausamkeiten und vom Sterben zu berichten. Die Sieger des Zweiten Weltkrieges werden dabei kaum als "unsere Befreier" in Erscheinung treten und die Flucht als eine harmlose, romantische Touristenreise.

Der in den Erzählungen eingeflochtene Lebenslauf eines Ostpreußen vom Jahrgang 1923 ist, dem Zeitgeschehen entsprechend, keineswegs besonders spektakulär. Selbst Erlebtes, mündlich und schriftlich Überliefertes sind darin verwoben. Mein Bemühen ist es, möglichst so lebendig zu berichten, dass dieses nicht nur bei den Lesern der Erlebnisgeneration Erinnerungen wach werden lässt, sondern auch darüber hinaus Aussagekraft hat. Vielleicht wird sogar in späteren Jahren manches, was heute nebensächlich erscheint, an Bedeutung gewinnen und für nachfolgende Generationen werden die Vorfahren nicht nur Namen sein, sondern Gestalt annehmen.

Nach diesem Vorwort schildert Zlomke die Verhältnisse in seinem damaligen Heimatort und auf dem elterlichen Hofe.

"Ärbarmung" nur das eine Wort, mehr entrang sich Omas recht umfangreichem Busen nicht, als sie mich, ihr zweites Enkelkind, zum ersten Mal sah. Mit diesem einen Wort "Erbarmung" und ohne jede Gestikulation ließ sich im ostpreußischen Sprachgebrauch so vieles ausdrücken. Dieses Wort hatte eine weit gespannte Ausdrucksmöglichkeit. Er war schon recht sparsam mit seinen Worten, der Ostpreuße, gleichsam als wäre Reden eine Schwerstarbeit. Ja, sie wirkte fast einfältig, diese unverwechselbare behagliche Rede mit dem singenden Tonfall. Durch die häufige Verwendung der Silbe "chen" am Wortende war sie sehr reich an Zärtlichkeitsformen. Breit und weich wurde das so oft als "Füllwort" verwendete "ei" ausgesprochen. "Ei, wo soll's denn hingehe", "Ei, was nu". Unübertreffiich wurde die Silbe "ei" in dem Zahlwort drei breitgezogen. "Freileinche, is die Leitung frei? Gebe se mal dr-ei, dr-ei, dr-ei." "Nei" fand Verwendung für neu und für nein. Wer einen nachlässigen Gang hatte, der "scheiwelte". So wurde aus der Küste eine "Kiiste" und aus Prügel "Prigel". Vögel sprach man "Veegel" aus und möglich, "meglich".

Oma wollte mit ihrem "Ärbarmung" Erschrecken und Mitleid mit meinen Eltern zum Ausdruck bringen. Doch sie war eine sehr resolute Frau, die nicht sofort aufgab und gewohnt war, dem Schicksal zu trotzen. Bei ihren sechs Kindern hat sie nie einen Arzt konsultiert. Die diphtheriekranke Frieda wurde von ihr mit Hausmitteln und Gottvertrauen kuriert. Trotz des löblichen Gottvertrauens ist ihr ein Kindlein im zarten Alter von einem Jahr verstorben. Na ja, wer weiß. Vielleicht wäre dieses aber auch bei Hinzuziehung eines Arztes geschehen. Doch die anderen sechs waren unkrauthaft. Hart, sehr hart hat das Leben ihnen später mitgespielt. - Oma wärmte sich erst einmal die erklammten Hände an dem großen Kachelofen, und dann wollte sie es genau wissen. Sie wickelte mich aus den Windeln, nahm mich gründlich in Augenschein und gelangte dabei zu der Meinung, dass eigentlich alles da war, was da sein sollte. Zu meiner Mutter sagte sie: "Friedchc, das Jungche is man bloß verhungert." Die Frieda war ihre drittälteste Tochter. die mit 17 Jahren heiratete und mit 18 Jahren mich, ihr erstes Kind, geboren hatte. Über die Feststellung von Oma war meine Mutter erst einmal erschüttert, sie, die noch eine stattliche Marjell war, vorne und hinten entsprechend proportioniert.

Damals, in den 20er Jahren, war dieses allerdings nicht das weibliche Schönheitsideal. Die knabenhafte Figur, vorne und hinten platt wie ein Brett, dazu streng geschnittenen Pagenkopf à la Asta Nielsen, das entsprach der Zeitmode. Die Taille des Kleides war auf den Po gerutscht, der Busen existierte nicht mehr und getanzt wurde Charlston. Doch diese modischen Verirrungen blieben, Gott sei Dank, in den Städten. Auf dem Dorfe galt noch das Natürliche und an den Frauen wurde weiterhin eine stattliche Mitgift der Natur geschätzt. Die Frisur war, wie eh und je, das schlicht zurück gekämmte Haar, welches zu einem Zopf geflochten und dieser dann als Dutt zusammengerollt am Hinterkopf platziert. Nur zu besonderen feierlichen Anlässen wurden mit der auf dem Herdfeuer erhitzten Brennschere, der sogenannten Ondulierschere, ein paar kurzlebige Locken in das Haar gezaubert. Dann roch es im Hause nach angesengtem Zeitungspapier, an dem die Hitze der Brennschere geprüft wurde. - Und auch das Nachtleben in unserem Dorfe war nicht vom Zeitgeist erfasst worden. Es ging schon sehr früh zu Bett, spätestens dann, wenn die "Elbinger Zeitung" gelesen und nochmals ein Kontrollgang durch den Stall gemacht worden war. Zu meinem Vater sagte die Oma: "Eche" (sie mochte ihn sehr gerne) "Geh du man ine Stall und strips e bessche Melch." Dann hat meine Oma dafür gesorgt, dass ich zum ersten Mal auf dieser Welt satt wurde. "Wacht man, das Jungche derkubert (erholt) sich bald. Tauft es man morgen ruhig. Wenn der Bengel man satt is, kann ihm das fitzche Wasser und Beten nicht nuscht schaden," war die Meinung meiner Oma. Dann musste Vater den lammfrommen, überhaupt nicht schichrichen (scheuen) braunen Wallach anspannen. Oma, in die dicke Pelzdecke eingewickelt, die Füße auf einem erwärmten Ziegelstein und die Hände in schafwollgefütterten Handschuhen, kutschierte nach Hause, nach Liebwalde, auf die "Kolnie". Onkel Franz, der Hoferbe, war noch nicht verheiratet und Oma musste somit als Bäuerin dem Hofe vorstehen.

In Opitten fand, wie vorgesehen war, meine Nottaufe statt. Vater holte von Königsblumenau die Hebamme, die ja in den ersten Tagen meines Lebens für das Diesseits zuständig war und zugleich als Taufpate fungierte, und den Herrn Pfarrer, dieser zuständig für das Jenseits, für das Altenteil der Seelen. Mich hat allerdings das Getue um meine Person nicht gestört. Satt wurde ich jetzt durch Inanspruchnahme der Schwarzbunten mit Namen Minna. Das Sterbenwollen war nun ganz hintenan gestellt.

Sterbenselend war es an dem Tage allerdings Vaters Cousin vom Abbau, dem Emil Saffran. Solange er die Zunge noch einigermaßen gebrauchen konnte, versprach er mir das Blaue vom Himmel. Bloß gehalten hat er davon später nichts. Ja, als ich später einmal vom Jungvolk aus für das Winterhilfswerk sammeln musste, hat er mich von seinem Hof gejagt, richtig mit der Peitsche.

Das ständige Spendensammeln - wir vom Jungvolk (JV) mussten dieses sehr oft machen - wurde direkt zu einer Belästigung für die Bevölkerung. Schon im Winter 1931/32, als die Zahl der Arbeitslosen den Höchststand erreicht hatte, wurde um die Not dieser Bevölkerungsgruppe zu lindern, das Winterhilfswerk ins Leben gerufen. Ab 1933, nach der Machtergreifung der NSDAP, wurde diese Aktion verschärft durchgeführt. Damals wurde auch ein Sonntag im Monat zum sogenannten "Eintopfsonntag" erklärt. An diesem Tage sollte in allen Haushalten das Mittagessen aus einem Eintopfgericht bestehen. In den Speisewirtschaften durfte auch nur diese Art Essen angeboten werden. Es wurde erwartet. dass der so beim mittäglichen Essen eingesparte Betrag in die Sammelbüchse gelangte.

Mit den Opittern konnte die NSDAP nicht allzuviel Staat machen. Sie waren politisch ziemlich verstockt und beherrschten noch nicht einmal den neuen deutschen Gruß "Heil Hitler". Sie machten davon auch nicht Gebrauch, als dieser Gruß nach dem 20. Juli 1944, dem missglückten Anschlag auf Hitler in der Wolfsschanze, obligatorisch wurde. Sie blieben weiterhin bei "Moin", "Ntach" und "Nabend".

Einer, der das "Heil Hitler" beim besten Willen nicht über die Lippen brachte, war Herr Reich, der Rendant vom Gut Rossitten. Die Kinder machten sich einen Spaß daraus. Sie, die sonst gar nicht so grußfreudig waren, nutzten jede Gelegenheit aus, gingen einzeln an Herrn Reich vorbei und grüßten mit gestrecktem Arm: "Heil Hitler. Herr Reich." Er durchschaute das Spielchen, doch in stets gleichbleibender Freundlichkeit kam von ihm das "Guten Morgen, mein Kind". - Von den Jungens sagte man sonst allgemein, dass sie "Spatzen unter der Mütze haben". Diese Redewendung rührte noch aus der Zeit, als beim Grüßen die Mütze gezogen werden musste, und davor haben sich die Jungen immer zu drücken versucht. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich erklären, dass in Opitten jedoch ein "Volksgenosse" war, der dem Trend der Zeit folgte. Einst hatte er die Faust zum Gruß geballt. Seine Finger und der Arm streckten sich aber und er fand an der braunen Farbe Gefallen. Diese Bekehrung wurde belohnt. Vom Gelegenheitsarbeiter avancierte er zum Chausseekratzer (Straßenwärter) an der Kreisstraße zwischen Geißeln und Reichenbach.

Am 14. Februar 1923 wurde ich gegen 22.00 Uhr geboren. Es war tiefster ostpreußischer Winter mit strengem Frost und viel Schnee. Dies waren die Tage, wo das in der Scheune eingelagerte Getreide gedroschen wurde. Meine Mutter wollte trotz ihres beschwerlichen Zustandes nicht untätig sein. Sie übernahm das Antreiben der Pferde am Rosswerk (Göpel). Die Pferde mussten eine bestimmte gleichmäßige Geschwindigkeit einhalten, um den Mechanismus eines Dreschkastens, der auf der Scheunentenne stand, in Funktion zu setzen. Aus den in den Dreschkasten eingelegten, geöffneten Getreidegarben wurden dann Körner und Spreu herausgeschlagen. Während das ausgedroschene Stroh wieder gebündelt und in das Scheunenfach gepackt wurde, musste die Spreu von den Körnern in einem besonderen Arbeitsgang getrennt werden. Dieses geschah mit einer Reinigungsmaschine, auch Windfege genannt. Sie wurde mit einer Handkurbel betrieben und erzeugte dann einen Luftstrom, der die Spreu aus den Körnern blies. Alles in allem eine staubige. zeitaufwendige und keineswegs leichte Arbeit. Energielieferant war noch in hohem Maße der Mensch mit seiner Arbeitskraft. Beim Getreidedrusch jedoch war es die erste Mechanisierungsstufe. Vordem sind durch die Jahrhunderte die Körner mit dem Dreschflegel aus den Ähren geschlagen worden. Es war eine Knochenarbeit, die einen großen Teil des Winters in Anspruch nahm, obwohl schon nachts um vier Uhr mit der Drescharbeit begonnen wurde. Das stundenlange Schwingen des Dreschflegels machte rechtschaffen hungrig. Aus jener Zeit rührt das Sprichwort: "Er isst wie ein Drescher".

Zum Abendbrot gab es wochentags Milchmus und Bratkartoffeln. Das war in allen ländlichen Haushalten so üblich. Der Milchmus bestand aus Vollmilch, die mit etwas Wasser verdünnt war und aus "Satschirken", kleinen Klunkern aus Weizenmehl. Daran konnte man sich rein "ambaschtich" essen (zuviel essen), so gut hat das geschmeckt, jedenfalls in meiner Erinnerung. Und es muss wohl allgemein so gewesen sein. Als nämlich Bernhard, unser Landhelfer, in Iserlohn beheimatet, mit der Elsbeth aus Kerschitten Samstag abends nach Königsblumenau zum Tanz ging, wollte er mit ihr gleich flott losscherbeln. Sie wehrte ihn aber mit den Worten ab: "Tanz nich so dewatsch, mir kluckert sonst der Mus in der Prech."

Als nun meine Eltern an dem Abend Milchmus und Bratkartoffeln gespeist hatten, stellten sich bei meiner Mutter andere Beschwerden ein. "Erich", sagte sie zu meinem Vater, "ich glaube, es ist soweit. Hol man die Hebammsche" Die Pferde wurden rasch an den Schlitten gespannt, doch dann dauerte es seine Zeit, bis sich die Pferde auf dem tief verschneiten Feldweg die drei Kilometer nach Königsblumenau durchgemüht hatten. Ab und an wurden zwar die Gemeindewege mit einem von vier Pferden gezogenen Schneepflug geräumt. Doch der Räumungseffekt hielt meistens nur kurze Zeit an, denn der Winter war mit Schnee und Frost sehr freigebig. Der Hohlweg am Totenstroh, dem kleinen Berg an der Gemarkungsgrenze von Opitten und Königsblumenau, war wieder gestrichen voll Schnee geweht. Vom Frost erstarrt waren die bizarren Schneewehen. Über den Acker musste diese Stelle umfahren werden und auch der Hohlweg des nächsten kleinen Hügels. Und in der klaren Winternacht war, genau in nördlicher Richtung, schwach der Lichtschein der gut zwanzig Kilometer entfernten Stadt Elbing zu sehen.

Ehe Frau Skott, die Hebamme, eine nicht mehr ganz taufrische. aber recht umfangreiche Person. Und ihre nicht minder umfangreiche Tasche im Schlitten verstaut waren, verging einige Zeit. Schließlich war mein Vater auch völlig unverhofft bei ihr erschienen. Jedenfalls hatten die verschwitzten Pferde, mit Decken gut eingedeckt Zeit, sich zu verschnaufen. Vater kehrte noch kurz im Nachbarhaus, im Gasthof Kallien ein. Ein Koks (ein Glas Rum mit einem Stück Würfelzucker) genehmigte er sich wegen der Winterkälte. einen wegen der Aufregung und einen aus Vatervorfreuden.

Bei Kailiens war auch eine Ausspannung und zu jeder Ausspannung gehörte ein "Friedrich". der die dort untergestellten Pferde betreute. An den Sonntagen, während des Gottesdienstes, hatte der Kalliens Friedrich alle Hände voll zu tun. Das Kirchspiel war groß und aus den umliegenden Orten kamen die bäuerlichen Kirchenbesucher mit Pferd und Wagen. die dann dem nicht mehr ganz jungen, aber recht rundlichen Friedrich anvertraut wurden. Nach dem Gottesdienst, während der Friedrich die Pferde wieder anspannte, die Fahrzeuge fahrbereit machte, kehrten die Bauern noch kurz in Kalliens Gaststube ein, genehmigten sich zur Feier des Tages ein Schnäpschen und kauften für die Kinder ein "Tutchen Bomches".

Im Trab ging es aus Königsblurnenau hinaus, doch dann mühten sich die Pferde wieder durch den tiefen Schnee. In Opitten angekommen, hätte sich die gute Frau nicht mehr aus der warmen Pelzdecke schälen brauchen. Ich hatte schon das Licht der Welt, genauer gesagt: das warme Petroleumlicht in der elterlichen Stube. erblickt und lag gut versorgt in der alten Familienwiege.

Doch weil ja alles seine vorgeschriebene Ordnung haben musste, packte mich die Frau Skott wieder aus und hängte mich an eine Zugwaage, solch ein Ding wie es die Lumpenhändler benutzten. "Beinahe acht Pfund, ein strammer Bengel", war ihre Feststellung. Dann hatte sie sich, nach soviel strapaziösem Einsatz, erst mal richtig gestärkt, vor allem aber dem Bohnenkaffee zugesprochen, so richtiger Bohnenkaffee und nicht bloß ein "gebohnter".

Einige Seiten weiter gibt Zlomke seine Gedanken zur NSDAP wieder.

Unsere Fahne flattert uns voran

Nachdem am 30. Januar 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, wurde die Jugend parteilich erfasst und organisiert. Unter dem Oberbegriff "Hitlerjugend" wurden danach alle Jugendlichen im Alter von zehn bis achtzehn Jahren zusammengefasst. Sie wurden untergliedert in Deutsches Jungvolk (DJ), allgemein Pimpfe genannt bzw. Jungmädchenbund. Mit vierzehn Jahren folgte dann automatisch ein Überwechseln in die Hitlerjugend (HJ) bzw. den Bund Deutscher Mädchen (BDM).

Der deutsche Junge hatte damals hart zu sein wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie ein Windhund. Er trug einen korrekten Haarschnitt, den Fassonschnitt.

Das deutsche Mädchenideal war blauäugig, blond und mit Zöpfen. Auch die Mädchen sollten von früher Jugend als Träger der nationalen Idee erzogen werden. Dazu gehörten Disziplin, Körperbeherrschung und Opferbereitschaft. Jedoch das wichtigste Erziehungsziel bei den Mädchen war die Vorbereitung auf die künftige Rolle als Mutter. Hitlers Forderung lautete: "Und ihr vom BDM erzieht mir die Mädel zu starken und tapferen Frauen!"

Wir haben alle gerne diesen Jugendorganisationen angehört, schon allein um nicht Außenseiter zu sein. Da waren die kleidsamen Uniformen, das Zusammengehörigkeitsgefühl, der Gleichklang und das Erlebnis der Gemeinschaft, was uns gelockt hat. Ein politisches Bewusstsein war bei uns in solch jungen Jahren noch gar nicht vorhanden. Und das dürfte wohl für dieses Alter allgemein und zu jeder Zeit zutreffen. Genau betrachtet wurde damals die Jugend für die Politik missbraucht. Man hat uns aus dem "falschen Gesangbuch vorgesungen" und durch Gesinnungsdiktatur gegängelt.

Als Pimpf war man an den Samstagen vom Schulunterricht befreit - eine tolle Sache. Wir sollten dafür ein wenig in Richtung Militärdienst geschult werden. Doch das war alles graue Theorie. Unsere Führer, Gleichaltrige aus unserer Mitte, hatten dafür weder entsprechende Kenntnisse, noch waren wir gewillt, deren Befehlen zu folgen. Von den in Reichenbach erlebten Dienst-Samstagen ist mir nur der kulinarische Aspekt in Erinnerung geblieben. Aus der Bäckerei Kutschkau holten wir für ein "Dittchen" (Zehnpfennigstück) drei Brötchen und vom Schlachter Weiß für ein "Dittchen" Pommersche (gekochte Fleischwurst). Kein Schulunterricht und dann dieses Schlemmeressen - ging es uns doch gut! Dafür sangen wir gerne: "Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not ...".

Nach der Schulentlassung war aber meine Teilnahme am Dienst in der HJ sehr, sehr mäßig. Wie die anderen Jugendlichen war auch ich weiterhin hitlergläubig, nur der Dienst, der hier nach Feierabend oder an den Sonntagen stattfand, behagte mir zeitlich überhaupt nicht. Dieser sogenannte Dienst entwickelte sich, je länger der Krieg dauerte, zu einer paramilitärischen Ausbildung.

Zigeuner im Klee

Es mag ungefähr 1932 gewesen sein, da kam eines Samstagabends der Nachbar Eduard Dauter zu Vater und sagte: "Erich, in deinem hinterschten Grund hat sich Zigeinerpackzeich breitjemacht. Ihre "Zossen" (meist minderwertige Pferde) lassen sie im Klee weiden." Dieses wandernde, ruhelose Volk mit seinen von Pferden gezogenen Wohnwagen sah man oft auf den ostpreußischen Landstraßen.

Ihr Ziel waren die zahlreichen Pferdemärkte in unserem Land. Natürlich fand man sie auch auf dem größten Pferdemarkt Europas, der jedes Jahr im August in der Kreisstadt Wehlau, auf den Schanzwiesen, abgehalten wurde. Auf diesem Pferdemarkt trafen sich Interessenten aus ganz Europa. Während um die Jahrhundertwende dort noch bis zu zwanzigtausend Pferde aufgetrieben wurden, waren es 1930 nur noch etwa achttausend.

Die Zigeuner verfügten wirklich nicht über das beste Pferdematerial. Doch diese schwarzen Gesellen waren mit allen Wassern gewaschen. Sie beherrschten die entsprechenden Tricks, um aus dem elendsten Klepper, den nicht einmal der Rossschlachter haben wollte, einen temperamentvollen, feurigen Draufgänger zu machen - jedenfalls während des Handels. Im Stall des Käufers kam dann das böse Erwachen. Wenn sich der Gibbel hingelegt hatte, musste man ihm am Schwanz hochhelfen. - Manches biedere Bäuerlein, das knapp bei Kasse war, ist von den Zigeunern über die Ohren balbiert worden.

Vater nahm seinen Krückstock, und ich musste mit dem Fahrrad mitkommen, aber nur bis in Rufweite zu dem Zigeunerlager. Ach, du grieses Katzche, wie sah es da aus! Sechs Wohnwagen standen in dem blühenden Rotklee und mehr als zwölf Pferde weideten heißhungrig. Wald und Birkenfließ dicht bei, ein idealer Lagerplatz. Messer blitzten auf, als Vater in dieser Idylle erschien. Lautes Palaver und Drohgebärden. Und ich hatte Angst. Da endlich rief Vater mir zu: "Hol den Gendarm!" Ich rauf auf's Rad und losgeprescht. Jetzt wurde den Zigeunern die Situation brenzlich. Mit der Polizei wollten sie genau so wenig in Berührung kommen, wie der Teufel mit dem Weihwasser. Die Frauen mähten rasch noch ein paar Bündel Klee. Die Männer spannten die Pferde an und gaben denen die Peitsche. Fluchend und Verwünschungen ausstoßend verschwand der Spuk. Zurück blieb ein verwüstetes Kleefeld.

Heute wachsen auf diesem Feldstück Bäume und Sträucher. Vorwiegend sind es Espen. die sich selbst angesät haben. Die Natur ist stärker als die ackerbaulichen Fähigkeiten des derzeitigen polnischen Besitzers.

Einige Seiten weiter schildert Zlomke uns die schulischen Verhältnisse.

Herr Schindowski, unser Lehrer

Pr. Mark war ein schöner Ort. Schöner aber war noch das Mädchen, mit dem ich an einem herrlichen Sommertag dorthin geradelt bin. Es war eine Rossitter "Marjell". Wir haben beide einträchtig das Rossitter "Schlorrengymnasium" besucht. - Die Schlorren waren in Ostpreußen auf dem Lande eine von Jung und Alt viel getragene, preiswerte Fußbekleidung. Das Schlorrengeklapper war gleichsam eine Begleitmusik in der Schule. Diese Treter konnte man in allen Kolonialwarenläden erwerben. Dort hingen sie paarweise auf Stangen aufgereiht. In Christburg war ein Unternehmen, das sich mit der Herstellung von Schlorren befasste. Vater hat dorthin verschiedentlich Erlenstämme geliefert, denn sie wurden überwiegend aus Erlenholz gefertigt. - Im vorliegenden Fall sollte man den Begriff "Gymnasium" (ostpreußisch ausgesprochen "Schimnasium") nicht zu eng auslegen.

Einst war die "Marjell" eine kleine "Kruschk" (kleines Mädchen) mit nicht immer ganz sauberen Näschen und ich ein sommersprossiger Bengel. Sie war es aber mit Sicherheit nicht, die zum Junglehrer Neumann sagte: "Ich hab kein Schnodder, denn brauch ich auch kein Kodder", als dieser bei dem betreffenden Mädchen das Fehlen eines Taschentuches beanstandete. Wir spielten miteinander "Versteckche mit Anschlag", "Greifche", "Ballche" und auch "Klippche". Und manchmal zog man auch aus Übermut den Marjellens am "Zagel", dem Zopf. Die Mädchen trugen damals das Haar gescheitelt und in zwei Zöpfen geflochten. Zu besonderen Anlässen wurden die Zöpfe mit farbigen Schleifen - lästernd Propeller genannt - geschmückt, was das Selbstbewusstsein der Trägerin sehr hob.

Acht Jahre drückten wir die unbequeme Schulbank, die blankgescheuert war von Generationen vor uns. Die hochklappbare Schreibplatte mit den ausgeleierten Scharnieren hatte Kerben, welche die Jungen mit ihren "Gniwwen" (billigen Taschenmessern) geschnitzt hatten, sowie unauslöschliche Tintenflecke. Ach ja, ich sehe es noch vor mir, das spartanisch einfache Klassenzimmer mit dem blassgrünen, knapp mannshohen Ölfarbensockel. An der linken Wand, gleich hinter der Tür, waren die "Knaggen" für die Garderobe und dahinter der große Kachelofen. Dieser wurde im Winter von Herrn Schindowski persönlich zeitig vor Schulbeginn mit Buchenscheiten reichlich aufgeheizt. Er wollte es schließlich auch warm und gemütlich haben. Auf der linken Seite des Raumes standen die Sitzbänke der Mädchen. Vorne waren die jüngeren Jahrgänge. Ganz am hinteren Ende saßen die vom achten, dem letzten Schuljahr. Diese althergebrachte Ordnung wurde aber von denen durchbrochen, die sehr große Sitztreue bewiesen und nicht mehr als solche die Jahre über aufzuweisen hatten. Rechts vom Mittelgang standen die Sitzbänke der Jungen nach der gleichen Ordnung wie die der Mädchen.

Vorne war das Pult des Lehrers. Links davon, in der Fensterecke, der von Herrn Schindowski eifrig benutzte, weiß emaillierte Spucknapf. Rechts vom Pult befand sich die große Tafel. Ein Lehrmittelschrank, dessen bescheidenen Inhalt ein paar Landkarten und ein Lexikon bildeten, vervollständigten die Einrichtung. Über allen thronte, uns Schüler im Auge habend, in einem schlichten, massiven Holzrahmen ein Porträt des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg: Kantiger Schädel mit einem Bürstenhaarschnitt, ausladender Schnurrbart und etwas abwesend dreinblickende Augen. Die Zeit lief weiter, der Holzrahmen blieb der gleiche, doch das Hindenburg-Porträt wurde durch das von Adolf Hitler ersetzt. Stechend fanatische Augen sahen jetzt auf uns herab, Augen, die scheinbar jeden persönlich anblickten.

Wenn der Lehrer morgens den Klassenraum betrat, standen wir Kinder auf und begrüßten ihn mit einem gemeinsam gesprochenen "Guten Morgen". "Moin", sagte dieser und "wir wollen beten." Später, in der Nazizeit, war die morgendliche Begrüßung ein zackiges "Heil Hitler", welches zugleich auch das Morgengebet ersetzte. Herr Schindowskis Jackenrevers schmückte nun das Parteiabzeichen der NSDAP. Viel Interesse für die Schule brachten wir alle nicht auf. Wir, das waren die Kinder aus den Orten Rossitten, Petersdorf, Laubnitz, Opitten und Kerschitten, ungefähr vierzig an der Zahl. Das Niveau unserer Schule galt nicht gerade als umwerfend. Schuld daran waren sicher nicht nur wir Schüler und der Gebrauch der Schiefertafel, den wir bis zur Schulentlassung pflegten, sondern es lag wohl mehr an unserem Lehrer. Er war des Schuldienstes schon müde. Einst hat er so manches Rohrstöckchen und manchen selbst geschnittenen Haselnussstecken verbraucht, damals, als Kindererziehung ohne Schläge auszuteilen, nicht vorstellbar war. Doch auch zu dieser Art von Erziehung hatte er keine rechte Lust mehr. Jetzt galt sein Interesse, besonders in der Sommerzeit, vor allem seinen Bienen. Früher befassten sich die Dorfschullehrer allgemein mit der Bienenhaltung, die manchmal sehr umfangreich war und wie bei Herrn Schindowski über fünfzig Völker zählte. Der Gewinn aus dem Honigertrag war sicher auch eine nicht zu verachtende Nebeneinnahme bei dem damals nicht umwerfend hohen Gehalt eines Dorfschullehrers.

Der Gewinn aus der Bienenhaltung ließ sich erheblich steigern, wenn das Schwärmen der Bienen so früh wie möglich erreicht wurde, so dass von diesen im gleichen Jahr noch ein Honigertrag erzielt wurde. Die Schwärme wurden daher wie folgt bewertet: Ein Schwarm im Mai - gleich ein Fuder Heu. Ein Schwarm im Jun' - gleich ein fettes Huhn. Ein Schwarm im Jul' - gleich ein Federspul.

Ein Schwätzer war Herr Schindowski wirklich nicht und auch kein Wortakrobat oder Freund großer Reden. Oft habe ich ihn zu Besuch bei unseren Nachbarn, Geschw. Preuß, erlebt. Wortlos saß er da und nur wenn es hieß: "Na, August, was meinst du dazu", gab er kurz Antwort. Am liebsten verbrachte er seine Freizeit angelnd, allein und ungestört in der romantischen Ruhe des Rossitter Sees, eingehüllt in den mückenverscheuchenden Rauch seiner Tabakspfeife, er, der Sohn eines Fischers.

Mit uns Schulkindern hat er von Zeit zu Zeit Wanderungen an den Rossitter See und zum Pappelberg gemacht. Da war er in seinem Element und konnte mit Begeisterung Pflanzen und Getier erklären. Zum Baden im Rossitter See ist er mit uns allerdings nicht gegangen. Am Anfang seiner Lehrertätigkeit ist ihm dort ein Kind ertrunken. Am Rossitter See war keine Badeanstalt. Gebadet wurde in freier Natur, unweit der Pferdeschwemme. Die Hinterlassenschaft der Pferde konnte das Seewasser aber gut verkraften. Das Baden verbot sich nur, wenn das Wasser blühte, es unappetitlich grün von sich stark vermehrenden Algen war. Dies geschah im Juli, wenn heißes und über mehrere Tage windstilles Wetter anhielt. Doch der Spuk dauerte nur wenige Tage.

Die Badebekleidung der Mädchen wurde von diesen selbst entworfen, denn an Geld für einen Badeanzug mangelte es allgemein, die Jüngeren von ihnen stiegen unbeschwert "oben ohne" ins Wasser. Die Mädchen, welche oben schon etwas zu verbergen hatten, oder diejenigen, die verbergen wollten, dass sie zu ihrem großen Kummer oben noch nichts hatten, zogen die Schlüpfer bis unter die Achsel. Die Schlüpfer waren ja damals sehr voluminös und glichen zu klein geratenen Knickebockern. Andere Mädchen gingen in ihren Hemden baden, die knielang alles verdeckten - mindestens so lange, bis die Trägerin ins Wasser eintauchte.

Übermäßig wurde der See wirklich nicht von Badegästen in Anspruch genommen. Abends, nach Feierabend, fanden sich die schon im Arbeitsverhältnis stehenden Jugendlichen ein und tauchten des Tages Hitze und Staub in das erfrischende Nass. Und dicht dabei lockte ein verschwiegenes Wäldchen. Wispern und verhaltenes "Quiddern" drang dann von dort her. Und der Sprosser sang sein Lied dazu. Doch diese blutrünstigen Mücken, die konnten so lästig werden!

Das reifere Alter mied öffentliches Baden und begnügte sich mit dem Wasser in der großen Zinkwanne, die sonst zum Wäschewaschen diente. Die Scheu, den Körper zu entblößen, war das Ergebnis der kirchlichen Erziehung. Diese hatte die im frühen Mittelalter allgemein üblichen öffentlichen Badehäuser, in denen es wohl nicht immer sehr sittenstreng zuging, derart verteufelt, dass darauf Zeiten einer unglaublichen Bigotterie folgten. Es war dann schon anstößig, wenn auf der Wäscheleine männliche und weibliche Unterwäsche nahe beieinander hingen.

Ab und an machte unser Lehrer auch einen Tagesausflug mit uns. Der eine, ein Fußmarsch von je vierzehn Kilometer Hin- und Rückweg in prächtigem Sommerwetter, war schon reichlich hart und kam fast einem Überlebenstraining gleich. Der Abmarsch erfolgte am kühlen Morgen in mustergültiger Ordnung. Vorne die Jungen in Zweierreihen, dahinter die Mädchen und am Schluss der Lehrer. Ziel war die "Geneigte Ebene" in Buchwalde. Vor Reichenbach, bei dem Gehöft der Geschw. Grunwald, wurde der unbefestigte Weg Richtung Wiese eingeschlagen. Es ging durch den Elbinger Hospitalforst. Eine romantische Wegstrecke, doch nicht so von uns registriert.

Erste Anlaufstelle war das bei der "Geneigten Ebene" gelegene Ausflugslokal mit Kaffeegarten, was heute nicht mehr existiert. Hier wurde unsere Barschaft erst einmal in Limonade umgesetzt und die von Muttern fürsorglich und großzügig mit Wurst belegten Brote aus dem fettdurchtränkten Zeitungspapier ausgewickelt und heißhungrig verspeist. - Unsere sonst allgemein übliche Schulspeisung bestand aus einer daumendicken, mit Schweineschmalz beschmierten Brotschnitte und Wasser. Dieses, aus der hohlen Hand getrunken, lieferte die Schwengelpumpe auf dem Schulhof.

Gestärkt und ausgeruht versuchten wir die Funktion der Rollberge zu verstehen, mit welchen die Schiffe Höhenunterschiede des Kanals überwinden. Zwischen dem Pinnau-See und dem Drausen-See betrug der Höhenunterschied auf einer Entfernung von fünfzehn Kilometern einhundertundvier Meter. Damit jedoch weitere Oberländische Seen an die Wasserstraße angeschlossen werden konnten und eine Gesamtwasserstraßenlänge von einhundertsechsundsiebzig Kilometern erreicht wurde, mussten die Seen durch Kanäle verbunden und deren Wasserspiegel auf eine einheitliche Höhe gebracht werden. Diese in Europa einmalige Anlage wurde von Baumeister Steenken in den Jahren 1844 bis 1860 errichtet. Die dem Oberländischen Kanal vorgesehene Aufgabe, dem Gütertransport zwischen dem Oberland und Elbing zu dienen, hat dieser nicht erfüllen können. Die aufstrebende Eisenbahn wurde ihm rasch zum Konkurrenten. Der Kanal war jedoch ein beliebtes Ausflugsziel und wurde im Sommer regelmäßig von Fahrgastschiffen befahren.

Ohne jede Marschordnung, einzeln oder in kleinen Gruppen, die Schuhe zusammengebunden und über die Schulter gehängt. erreichten alle von uns das Zuhause, wenn auch ziemlich mitgenommen.

Ganz anders, fast komfortabel, war dagegen ein Ausflug zum Klostocksee, der sehr schön und romantisch in dem großen Forst Alt-Christburg lag. Zwei Leiterwagen, mit Sitzbrettern ausstaffiert und vierspännig gefahren, wurden von der Gutsverwaltung Rossitten zur Verfügung gestellt. Mit Peitschengeknall und aufgeregtem Geschnatter von vierzig Kindern ging es, zeitweise in flottem Trab, in Richtung Pr. Mark. Von dort führte der Weg zum Teil am Mottlausee entlang. Am Klostocksee war eine einfache Badeanstalt und da der Junglehrer mit von der Partie war, hieß es: "Baden erlaubt."

An eine Visitation durch den Schulrat kann ich mich beim besten Willen nicht entsinnen. Unser Wissensstand hätte diesem Herrn sicher zu sehr auf den Magen geschlagen und ihm das Wasser in die Augen getrieben. Friedrich der Große hätte allerdings seine Freude an unserem schulischen Wissen gehabt. "Lernen sie zu viel, laufen sie in die Städte und wollen Sekretäre und so'n Zeugs wcrden", war seine Meinung.

Der Kreisschularzt jedoch besuchte uns alljährlich. Tags zuvor schärfte uns Herr Schindowski ein: "Wascht euch ja die "Mauken" (Füße) ordentlich!" Zuerst nahm sich der Arzt die Jungen vor. Alles nackt ausziehen. Wir wurden gemessen, gewogen, das Gebiss kontrolliert, von vorne und hinten begutachtet, fast wie später bei der Musterung zum Militärdienst. Die Aufsicht führte Lehrer Schindowski, auch bei der Untersuchung der Mädchen, die nach dem gleichen Ritual verlief. In unseren Augen war er damals schon alt, uralt und jenseits von Gut und Böse, alles Eiszeit. Vielleicht traf bei ihm aber auch nur zu: "Stiller Wasser hat sich tiefem Loch." Zwar waren damals die Mädchen im Alter bis vierzehn Jahren körperlich nicht so weit entwickelt, wie das heute der Fall ist, aber dennoch haben sich bei mancher einst spidrigen, mickrigen Heulsuse mit bleistiftdünnen Fohlenbeinen, an der lustlos die Kleider hingen, vielversprechende weibliche Formen gezeigt. Es wird wohl doch ein recht erbaulicher Tag für unseren Lehrer geworden sein.

Aus heutiger Sicht betrachtet befand sich Herr Schindowski damals noch weit entfernt von "alles Eiszeit". Er war 1937, als ich die Schule verließ, einundsechzig Jahre alt. Bis Kriegsende, seinem neunundsechzigsten Lebensjahr, war er im Schuldienst. Mit dem Rossitter Treck war er nicht geflüchtet und geriet in die Hände der Rotarmisten. Die Weigerung, seine Stiefel auszuziehen und sie einem von denen zu überlassen, kostete ihn das Leben.

Später erzählt Horst Zlomke von Verhältnissen in der Landwirtschaft.

" ... mit Ackererde angereichert".

Dass mein Beruf einst Bauer sein würde, Bauer im weitesten Sinne, war für mich selbstverständlich. Zu sehr war meine Kindheit. in der kleinen Opitter Welt mit dem bäuerlichen Gedankengut und der bäuerlichen Arbeit verbunden. Als ich mich nach dem Krieg, bedingt durch die Vertreibung aus der Heimat, des Broterwerbs wegen bei der Bundesbahn wiederfand, war dadurch das bäuerliche Element in mir nicht verschüttet worden.

Die Ursache ist sicher darin zu sehen, dass rein bildlich gesprochen, mein Blut mit Ackererde angereichert ist. Sämtliche meiner ermittelten Vorfahren, zurück bis zum Jahre 1732, gehörten dem Bauernstand an. Und bei den weiter zurückliegenden Ahnen kann es, in dem damaligen Nur-Agrarland Ostpreußen, kaum anders gewesen sein.

(...)

Der von mir erwählte Beruf des Bauern war nach 1933 aufgewertet worden wie nie zuvor. Der Bauer war direkt ein privilegierter Stand geworden. Er war "... die Lebensquell' des deutschen Volkes" und der "Garant der deutschen Zukunft". Den dummen, den tölpelhaften Bauern, diese Witzblattfigur, die gab es nicht mehr. Die Landwirtschaft galt nun als die Rückversicherung für die Wirtschaft des Landes und hatte die Aufgabe, die Ernährung des Volkes aus eigener Scholle sicherzustellen. Sie galt als die schlechthin erzeugende Art von Leben, die jede andere Art von Leben erst möglich macht".

1933 wurde der Reichsnährstand, eine landwirtschaftliche Zwangsorganisation, geschaffen. Er war die Trägerorganisation für die gesamte Agrarpolitik. Sogenannte Bauernschaften wurden auf Landes-, Kreis- und Ortsebenen eingerichtet. Das Reichserbhofgesetz trat in Kraft. Als Erbhof galten landwirtschaftliche Betriebe mit einer Größe von siebeneinhalb bis einhundertfünfundzwanzig Hektar. Höfe dieser Größenordnung garantierten damals eine Existenz. - Der Erbhof durfte weder verschuldet noch zersplittert werden oder in betriebsfremde Hände gelangen. Die "Blut und Boden - Ideologie" wurde geschaffen. Bauer war nach der Definition des Reichserbhofgesetzes "- wer in erblicher Verwurzelung seines Geschlechtes mit Grund und Boden sein Land bestellte ..."

Durch die Stabilisierung der landwirtschaftlichen Preise begann die Landwirtschaft zu gesunden. Die Nahrungsmittelproduktion stieg. Schon seit 1860 konnte die deutsche Landwirtschaft mit ihrer Produktion den Lebensmittelbedarf für das eigene Volk nicht decken. Eine Versorgungslücke bestand vor allem bei Fleisch, Fett, Flachs und Wolle. Das ist heute in der Zeit von Milchseen, Butter- und Fleischbergen unvorstellbar. Doch werden diese gewaltigen Nahrungsmittelüberschüsse auf dem eigenen Grund und Boden erzeugt? Bekanntlich nicht.

1937 wurden die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise, als Anreiz zu vermehrter Produktion, angehoben. Die "Erzeugungsschlacht" war in vollem Gange. An dieser grünen Front, Frontabschnitt elterlicher Hof, kämpfte ich seit meinem vierzehnten Lebensjahr, also ab 1937. Ich musste den bisherigen Landhelfer ersetzen.

Nachdem 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, wurde von diesen der Abbau des gewaltigen, über sechs Millionen zählenden Arbeitslosenheeres in Angriff genommen. Eine der durchgeführten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen war es, junge männliche Arbeitslose, auch berufsfremde, vorerst in der Landwirtschaft zu beschäftigen. Dies waren dann die Landhelfer. Kost, Logis und etwas Bargeld erhielten sie von dem sie beschäftigenden Bauern. Eine Ablehnung dieser Arbeit hätte für diese Erwerbslosen bedeutet, jeden Anspruch auf soziale Unterstützung zu verlieren.

Eine landwirtschaftliche Hilfskraft gab es nun auf dem elterlichen Hof nicht mehr, und da Vater, nach der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1935, mehrfach zu wochenlangen militärischen Übungen eingezogen wurde, war ich junges Bürschlein mit Arbeit reichlich eingedeckt. Getrieben wurde ich außerdem von dem Ehrgeiz, alles so zu erledigen, dass Vater nicht, wenn er von den Übungen zurückkehrte, eventuell kritisierend die Augenbrauen hochzog.

Dann erzählt Zlomke von seinem eigenen beruflichen Werdegang.

"Spektor" will ich werden

Die deutsche Kriegsmaschinerie lief die ersten Kriegsjahre erfolgsverwöhnt von Sieg zu Sieg. Die vorsorglich einberufenen älteren Jahrgänge, zu denen auch mein Vater gehörte, wurden wieder aus der Wehrmacht entlassen. Auf dem elterlichen Hof war jetzt "ein Mann zu viel an Bord". Dieser Umstand erschien mir günstig, den Eltern meinen speziellen Berufswunsch vorzutragen. Während andere Jungen damals davon träumten, einmal Lokführer zu sein, war mein Wunsch, den zu äußern ich gar nicht wagte, von jeher Gutsverwalter, ostpreußisch ausgedrückt "Spektor", zu werden. In meinen Augen war dieser ein kleiner Herrgott, ein Landwirt in Schlips und Kragen, hoch zu Ross, angetan mit Breeches-Hosen. Dieses waren sehr "komode" (bequeme) Reithosen mit ziemlich ausladenden Oberschenkeln. Ganz eng lagen sie dagegen an den Unterschenkeln an. Dazu langschäftige Stiefel aus weichem Leder.

"Jung, die Rosinen schlag dir man aus dem Kopf", meinte mein Vater. Und er hatte ja eigentlich auch recht, denn ich besaß genau betrachtet keinerlei Vorbildung dafür. Weder hatte ich eine landwirtschaftliche Fremdlehre vorzuweisen, noch den Besuch der Landwirtschafts-Schule. Ich kannte ja nur den kleinbäuerlichen, elterlichen Betrieb und hatte die Landwirtschaft lediglich aus dieser Perspektive kennengelernt. Auch fehlten mir berufliche Erfahrungen.

Doch die Zeit war damals für mein vermessenes Vorhaben sehr günstig. Die männliche Jugend im Alter von etwa zwanzig Jahren war zum Militärdienst eingezogen worden oder auf dem elterlichen Hof unentbehrlich. Wider Erwarten stellte mich Dr. Bieber, der Administrator und Güterverwalter der Begüterung des Freiherrn von der Goltz-Domhardt, Gr. Bestendorf, ein.

Der 1. März des Jahres 1941 kam rasend schnell und unaufhaltsam näher. Mein Bammel wurde immer größer und ich immer kleinlauter. In Maldeuten stand der Kutschwagen am Bahnhof. Leicht maliziös lächelnd betrachtete der Kutscher - er war natürlich nicht in Livree, sondern hatte seine Stalljoppe an - die beiden Persilkartons, in denen Mutti meine nicht gerade umfangreiche Garderobe verpackt hatte, ehe er diese auf dem Wagen verstaute. Mit gleichem Lächeln bedachter er auch mich schüchternen Jüngling. Das Gutshaus in Gr. Samrodt war der Wohnsitz des Administrators. Es wurde auch mein Domizil.

Der Administrator, etwa dreißig Jahre alt, verwaltete einen landwirtschaftlichen Großbetrieb, der aus zwei Hauptgütern und mehreren Vorwerken bestand, mit einer Gesamtfläche von über zweitausendfünfhundert Hektar. Er war sehr dynamisch und eine wirkliche, befehlsgewohnte Autorität mit Führungsbegabung, stets freundliche Distanz wahrend. Außerdem sah er beneidenswert gut aus und die Schmisse in seinem Gesicht, Mensurennarben, machten ihn noch interessanter. Die Scharwerksmädchen himmelten ihn an. Unkompliziert und kumpelhaft ging er mit denen um, ohne dass von irgend einer Seite plumpe Vertraulichkeit aufkam.

Dann war da die Frau Bieber, jung attraktiv, ganz Dame, ganz "gnä' Frau". Und ich hatte vollen Familienanschluss. All das Neue, was da so plötzlich auf mich einstürmte, schien mein kleines Ich förmlich zu erdrücken. Wenn Punkt zwölf Uhr der Gong ertönte, bedeutete es sozusagen "Antreten zum Mittagessen". Sauberes Schuhzeug, Jacke gewechselt, frisch gewaschen und frisiert nahm auch ich im Speisezimmer an dem langen, schweren Eichentisch Aufstellung, und zwar dort, wo meine Serviette lag. Dieses war am untersten Ende der Tafel, sozusagen als Schlusslicht.

Fast täglich nahmen Gäste an dem Mittagessen teil. Manches Mal kam es einer Invasion gleich, so zahlreich waren sie vertreten, die Experten aus der Landwirtschaft und die Honoratioren. Wenn ich die Vorsuppe bekam, war das Gros der Gesellschaft schon beim Hauptgericht. Dieses meist überspringend, fand ich dann beim Nachtisch wieder Anschluss an die anderen. Das Abendessen verlief in etwa nach dem gleichen Ritual. Da sich aber jeder selbst die Schnitten bestrich und belegte, geriet ich nicht so ins Hintertreffen.

Milchsuppe mit Klunkern drin und Bratkartoffeln, das übliche Abendessen der ostpreußischen Landbevölkerung, wie ich es auch von zu Hause aus gewöhnt war, gab es hier nicht. Ich hatte ja bisher auch nur die Füße unter den elterlichen, mit einer bunten, schon brüchigen Wachstuchdecke bedeckten Tisch gesteckt Zwar legten die Eltern großen Wert auf gute Tischmanieren. aufrechtes Sitzen und sich nicht am Tisch auflümmeln, doch der Gebrauch der Serviette war nicht vorgesehen, nach der Devise "Wir beschlabbern uns doch nicht." Jahrelang war mir zugestanden worden, dass ich die Bratkartoffeln in das Milchmus tun durfte. Gut verrührt und ausgelöffelt - welch ein Genuss! Ich hatte als kleiner Junge registriert, dass für die Schweine auch Kartoffeln, Schrot und Wasser zu einem Brei verrührt wurden. Was den Schweinen gut und zweckmäßig war, konnte doch für mich nicht schlecht sein, schlussfolgerte ich.

Als der Winter kam, besuchte Horst Zlomke dann die Landwirtschaftsschule.

Auf der Landwirtschaftsschule in Pr. Holland

Um den Bauernsöhnen und angehenden Hoferben eine gute theoretische Ausbildungsmöglichkeit zu bieten, wurde 1925 in Pr. Holland die Ackerbauschule eröffnet. ... Ich besuchte die Landwirtschaftsschule im Winterhalbjahr 1941/42. Damals wurde die Ausbildung kriegsbedingt gestrafft und gekürzt. Für zwei Semester stand nur ein Winterhalbjahr zur Verfügung. Schulleiter war Dr. Vahl, ein Bauernsohn aus Pomehrendorf. Im Sommerhalbjahr wirkte er vorwiegend als landwirtschaftlicher Berater. Obwohl er Parteimitglied war, hat er politisch in keiner Weise auf uns eingewirkt, sondern uns nur sachbezogenes Wissen vermittelt. Zum Kriegsende ist auch er zum Volkssturm eingezogen worden und gilt seit der Teilnahme an den Kämpfen uni Danzig als vermisst.

Von den einstigen Lehrern war nur noch Herr Frauenheim, ein Thüringer, im Schuldienst tätig.

In der "Klopsakademie", der in der Hindenburg-Straße gelegenen Mädchenschule, wurden die angehenden Bäuerinnen unterrichtet. Dr. Vahl tat dieses dort in dem Fach Rindviehhaltung. Etwas zweideutig hieß es dann in der Abschlusszeitung am Schulende: "Damit die Mädchen auch was vom Rindvieh sollten verstehen, ließ sich bei ihnen Dr. Vahl sehen." - Herr Frauenheim unterrichtete die Mädchen in der Schweinehaltung. Die Schweinehaltung war einst in vielen bäuerlichen Betrieben die Domäne der Bauersfrau. Und im Herbst fand, landauf und landab, das große "Schweinemorden" statt.

Relativ spät waren die Schweine züchterisch bearbeitet worden. Es dominierten die beiden Rassen "Deutsches Landschwein" und "Edelschwein". Während das Edelschwein etwas raschwüchsiger war, entsprachen aber beide Rassen dem damaligen Zuchtziel, wohlschmeckendes, kerniges Fleisch und viel Schmalz zu liefern. Nach der Zahl der gefüllten Schmalztöpfe wurde die Schlachtung bewertet.

Ohne Schweineschmalz lief eigentlich nichts in der ostpreußischen Küche, und der Schmalztopf gehörte einfach auf jeden ordentlichen Frühstückstisch. So manches Schmalzbrot, fein säuberlich in Zeitungspapier eingewickelt, wurde als Vesperbrot während der Feldarbeit verzehrt. Eine gute Hausfrau und Bäuerin konnte ihren Männern auch im Kornaust einen ordentlich dicken Spirkel und schmalzreiche Kost vorsetzen.

"Ach was, wirst nie begreifen", habe ich am Anfang resignierend gedacht, als Physik, Chemie, Biologie und sonstiges schulisches Neuland auf mich einströmten. Und wie sollte ich überhaupt den Anschluss an meine Mitschüler schaffen, die zum Teil Mittelschulabsolventen waren. Jede Art von Hirnmüdigkeit musste ich daher ablegen und erst einmal ganz schön büffeln, um nicht im Abseits der Unwissenden zu verweilen. Die Nachmittage, die ja schulfrei waren, benutzte ich daher vorerst zu löblichem, schulischen Streben.

Wie die allermeisten der Schüler und Schülerinnen pendelte auch ich nicht täglich zwischen Elternhaus und Schule, sondern bewohnte schulnah ein möbliertes Zimmer bei einer älteren, netten Dame. Nur zwanzig Kilometer betrug die Entfernung zwischen Opitten und Pr. Holland. Doch damals diese Strecke täglich zurückzulegen, dazu noch zur Winterzeit, war gar nicht durchführbar.

Dann berichtet der Autor, wie grausam er Flucht und Vertreibung erlebt hat.

Wer noch Jungfrau, wird zum Weibe ...

Eine geschlossene Räumung von Deutschendorf konnte nicht mehr durchgeführt werden. Die Bewohner erlitten die Russen in ihrem Heim und zum Teil auf der Landstraße. ...

Bei Alexander Solshenizyn liest es sich so:
Wer noch Jungfrau, wird zum Weibe,
und Weiber - Leichen bald.
Schon vernebelt, Augen blutig,
bittet: "Töte mich, Soldat!"

Wo war sie eigentlich‚ die vielgerühmte russische Seele? Offensichtlich vergraben, verschüttet unter dem staatlich organisierten Hass gegen alles Deutsche. "Kratz an dem Russen, hervor kommt eine Tatare." Dies ist wohl die Erklärung dafür, dass der Russe auch so bestialisch grausam sein kann, er praktisch zwei Gesichter hat. Ilja Ehrenburg hat mit seinen Hasstiraden eine schaurige Berühmtheit erlangt Seine Absicht war es - und er hat es auch erreicht - dass der Hass gleichsam zur Munition gegen alles Deutsche wurde, zu einem Holocaust ausuferte, grausamer als jeder Kinoeffekt.

Die Familie Beitler erlitt die Russen auf der Landstraße. Der Verlust von Pferd, Wagen und Gepäck, was zählte das da noch. Sie hatten sich auf ihr Anwesen zurückgeschleppt Deutschendorf wurde vorübergehend wieder von deutschen Truppen eingenommen. Es waren Angehörige der 4. Armee. General Hoßbach sollte sich mit dieser in der Masurischen Seenplatte einigeln. Diese Armee war dort jedoch zur Tatenlosigkeit verurteilt General Hoßbach brach mit ihr daher eigenmächtig Richtung Westen auf; um den auf Elbing zielenden Vorstoß der Roten Armee zu durchbrechen. Er musste jedoch den sehr erfolgreich verlaufenden Angriff auf Befehl Hitlers einstellen. - In Sommerfeld, etwa achtzehn Kilometer östlich von Pr. Holland sollen die deutschen Truppen achtzig Rotarmisten dabei überrascht haben, wie sie ihren "Soldatenspaß" mit den deutschen Frauen trieben.

Vielen Einwohnern von Deutschendorf gelang jetzt die Flucht Annche und ihre Mutter waren von den Russen derart zugerichtet worden, dass sie zu einer erneuten Flucht nicht mehr in der Lage waren. Die Familie hat auf ihrem Anwesen den Tod gefunden. Die Eltern - im Keller erschossen. Annche fand auf dem Hof den Tod. Ihr waren die Brüste abgeschnitten und auf den nahen Misthaufen geworfen worden.

...

All die an Deutschen verübten Verbrechen, Grausamkeiten und sadistischen Bestialitäten werden heute weitgehend verschwiegen. Man ist verschiedentlich sogar so geschmacklos und zynisch, von den Betroffenen zu erwarten, dass sie in ihren einstigen Peinigern ihre Befreier sehen, andernfalls rechnet man sie den Rechtsextremisten zu. Es geht nicht um das Wachhalten von Revanchegedanken. Doch die Opfer (in Ostpreußen betraf es jeden vierten Einwohner) hinter dem Vorhang des Vergessens verschwinden zu lassen, bedeutet, sie noch einmal zu töten. - Deutschland ist das Land unzähliger Gedenkstätten. Doch kein vom Staat erstelltes Ehrenmal kündet von den 2,1 Millionen Vertreibungstoten.

Und dann war der Krieg für Zlomke zu Ende.

Verwundet - Gefangen

Am 22. April 1945 war für mich der Krieg zu Ende. Es war in Norditalien.. im Raum von Sibello. Dort wurde ich von italienischen Partisanen bei einem Stoßtruppunternehmen zur Freikämpfung eines von ihnen besetzten Ortes verwundet. Zu diesem Zeitpunkt war es an der Südfront schon reichlich unübersichtlich geworden. Stellungen, die wir beziehen sollten, waren verschiedentlich schon vom Gegner besetzt, als vor uns die geschlossene gegnerische Front und hinter uns auch schon der Gegner war. Oft ein Katz- und Mausspiel.

In dieser für uns unerfreulichen Situation kochten die Partisanen ihr Süppchen mit, und zwar aus verstecktem, sicheren Hinterhalt. Was haben diese überwiegend Jugendlichen für einen Freudentanz aufgeführt über ihren Erfolg, uns fünf verwundeten deutschen Landser in ihrer Gewalt zu haben.

...

Als nach ein paar Stunden der Freudenrausch dieser "Krieger" abgeklungen war, brachten sie mich in ein italienisches Krankenhaus. Das Krankenzimmer war ein lang gestreckter, saalartiger Raum. In der Mitte war ein Gang und links und rechts standen mindestens dreißig Betten. Mein Bett war gleich links neben dem Eingang.

Ein Stimmengewirr, lautes, gestenreiches Palaver. Dann die zahlreichen Angehörigen, die zu Besuch kamen. Es war wie auf einem Basar. Doch ich bekam von alledem sehr wenig mit. Die zwei Tage, die ich in diesem Krankenhaus verbracht hatte, schlief ich fast ununterbrochen. Die Spannung der vergangenen Wochen war abgefallen. Die bescheidenen Mahlzeiten brachte eine Nonne; weiße Tracht, große Flügelhaube. Verstohlen zauberte sie für mich ein zusätzliches Stück Weißbrot hervor. Ich muss demnach ziemlich mitleiderregend ausgesehen haben. Die letzte Zeit hatte uns der Gegner in seiner gewaltigen Übermacht zu Lande und in der Luft gejagt, wie die Hasen bei der Treibjagd. Und wann hatte man das letzte mal richtig schlafen können?

Von zwei siegesstolzen, bis an die Zähne bewaffneten Partisanen, die aber trotz ihres äußerlichen kriegerischen Gehabes, hilfsbereit waren und mich stützten, wurde ich den Amerikanern übergeben. Zu meinem größten Erstaunen interessierten sich diese zuerst für Uhren und andere Wertgegenstände. Einige von ihnen hatten am Handgelenk schon mehrere Armbanduhren. Gangster in Uniform, das war der erste Eindruck, den man vermittelt bekam. Und dann hieß es immer wieder: "Mak Shnell, mak shnell!'

"Das von den Amerikanern geplante Großprojekt der psychologischen Umerziehung trug rasch Früchte", meint Zlomke. Er findet es völlig abwegig, nach dem Krieg Winston Churchill den Aachener Karlspreis zu verleihen. Er hätte doch 1939 erklärt: "Dieser Krieg ist ein englischer Krieg und sein Ziel ist die Vernichtung Deutschlands." Außerdem trüge Churchill die Hauptverantwortung für die Flächenbombardierung Deutschlands, die 1977 in Genf zum Kriegsverbrechen erklärt wurde. Zlomke meint, heute gelte der Grundsatz "Liebe Deinen Nächsten - wenn es nicht ein Deutscher ist."

Entlassen aus der Kriegsgefangenschaft

Nach einem Jahr Kriegsgefangenschaft und "vier Jahren der Bevormundung und des Gegängeltwerdens ... hieß es sich wieder zu resozialisieren."

"Josef Fehrlinger in Schlipsheim bei Augsburg", lautete meine Entlassungsadresse. Der Sepp, den ich im Lazarett kennen gelernt hatte, bot mir an, von ihm aus in das Zivilleben zu starten. Die Fehrlingers waren einfache Leute, die mich herzlich aufnahmen. Obwohl sie auf dem Lande lebten, war ihr Tisch wirklich nicht reichlich gedeckt.

Damals wurden die Lebensmittel nach ihrem Nährwert. nach Kalorien. bewertet. Zweitausendfünfhundert Kalorien galten als das Existenzminimum für einen Erwachsenen. In der amerikanischen Besatzungszone, in welcher die deutsche Bevölkerung noch am besten versorgt wurde, betrug die Zuteilung jedoch nur eintausendzweihundertfünfzig Kalorien.

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Den guten Fehrlingers wollte ich so wenig wie möglich zur Last fallen, daher ließ ich mir umgehend vom Arbeitsamt in Augsburg eine Arbeit auf einem Bauernhof nachweisen. Dies war damals auch fast die einzige Arbeitsmöglichkeit, die sich bot und die zugleich Unterkunft und Verpflegung garantierte. Die deutsche Wirtschaft lag zu dem Zeitpunkt völlig am Boden.

So kam ich dann nach Gablingen, etwa zwanzig Kilometer nördlich von Augsburg. zum Bauern Sebastian Dössinger. "Ja mei, a Flöchtling bischt und aus Ostpreußen. - Ja, verstohscht auch was von der Landarbeit", wurde ich zuerst kritisch von dem Bauern examiniert. Die Bäuerin setzte mir derweil ein üppige Brotzeit mit gutem deutschen Brot vor und forderte mich auf: "Nu lang man zua!" Den Gefallen tat ich ihr gern. So wurde ich dann Knecht bei Dössingers im Schwabcnland, dem Land der Häuslebauer, dort wo sie immer "schaffe tue".

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Rückblende in den Januar 1945:

Im Heimaturlaub auf der Flucht

Am 20. Januar 1945, nach über zwei Jahren Abwesenheit, kam ich auf Urlaub. Durch die damals bestehende Urlaubssperre bezüglich des allgemein üblichen Heimaturlaubs waren die Fronturlauberzüge sehr schwach besetzt. Es war fast ein Liegewagenreisen. In Ostpreußen jedoch traf ich übervolle Reisezüge, welche die Menschenmassen kaum fassen konnten. Bombenevakuierte aus dem Reich und Flüchtlinge aus den schon von den Russen besetzten ostpreußischen Gebieten versuchten, Ostpreußen mit dem Zuge zu verlassen. - Kein gutes Omen.

In Königsblumenau umfing mich beim Verlassen des Zuges tiefer Frieden. Eingebettet in eine dicke, weiße Schneedecke war die Landschaft so unwahrscheinlich still. Aus den Schornsteinen stieg steil der Rauch auf. Zu Hause begrüßte ich meine Mutter und meine Schwester. Mein Bruder war in Rossitten in der Schule, denn alles lief noch nach der alten Ordnung ab. Vater trug längst wieder Feldgrau.

Bestürzung bei meiner Mutter. als ich auf sofortige Fluchtvorbereitung drängte. Jede Art von Fluchtvorbereitung war allerdings streng verboten und wurde als Panikmache und Zersetzung des Verteidigungswiderstandes geahndet. Gauleiter Koch als Reichsverteidigungskommissar drohte in einem Rundfunkaufruf "Wer den Hof verlässt, verliert den Besitz." Ein glatter, durch nichts zu rechtfertigender Durchhaltewahnsinn. Wer den Hof nur wenige Tage später nicht verließ, verlor ihn trotzdem und außerdem oft auch noch sein Leben.

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Was alle Flüchtlinge mit in die Ungewissheit nahmen, war die Liebe zu ihrer Heimat. Man konnte sie später ihrer letzten Habe berauben, sie unvorstellbar quälen und erniedrigen, doch ihnen niemals diese Liebe aus dem tiefsten Innern reißen.

Von der Geburtstagstorte meiner Schwester - sie war an dem Tag zwanzig Jahre alt geworden - aßen wir mechanisch und wortlos. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Zu ungeheuerlich war das. was da auf uns zukam!

Am nächsten Tag. am 21. Januar 1945, erteilte die Kreisleitung der NSDAP den Befehl zur Flucht . Gegen 18.00 Uhr (das Vieh im Stall war versorgt und die Kühe waren gemolken) überbrachte Ursula Preuß, die Tochter des Bürgermeisters, den Bescheid, dass die Opitter Bewohner um 21.00 Uhr loszutrecken haben mit dem Ziel, sich in Reichenbach diesem Ortstreck anzuschließen.

Ich machte die Flucht zehn Tage mit. Jedoch deren Realität wirklich zu schildern, so dass der Leser es seelisch und körperlich miterlebt, fehlt mir die Ausdrucksfähigkeit. Es ist mir nicht einmal gelungen, die letzten Stunden daheim anschaulich wiederzugeben.

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Ein letzter Gang mit Mutti führte durch alle Räume und durch den Stall. Einst wurden die Verstorbenen zum endgültigen Abschiednehmen noch einmal durch alle Räume des Hauses getragen. Mutti schien, als wäre sie schon gestorben, auch wenn sie diesen Gang noch selber machte. Wortloser Abschied ohne jede Dramatik, ohne Tränen, wie im Trance. Es war die erste Lektion im Erlernen, schnell Abschied zu nehmen von allem, woran das Herz hing, von Lebenden und von Toten. Wissen, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war.

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Rasch waren die Menschen hart geworden - gegen sich und gegen andere. Es wurde nicht allzuviel nach links oder rechts geschaut. Das eigene Leid, die eigenen Probleme wogen meist so schwer, dass dazu nicht noch das Leid anderer mitgetragen werden konnte.

Ein alter Bauer weinte haltlos. Er hatte dabei das Gesicht an den Hals seines Pferdes gedrückt, das erschöpft dastand, mit müde gesenktem Kopf. Seine Flanken zitterten vor Anstrengung. - Die Alten und die Frauen mit ihren Kindern waren es, die das Bild dieses Trecks bestimmten, und die all das Unbill am härtesten spürten.

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Auch gebetet - mit geschlossenen Lippen - und gestorben wurde unterwegs. Die ganz Alten und die Schwachen lagen eingepackt in Decken und Betten auf den Fluchtfahrzeugen. Sie waren nicht mehr in der Lage, wie all die anderen. eingemummt bis zur Unkenntlichkeit, von Zeit zu Zeit neben dem Fahrzeug einherzugehen. Ihr Lebenswille schlief bald ein. Ihre Seele und ihr Herz hatten sie bereits dort gelassen, wo einst ihr Zuhause war. - Das Weinen der ganz Kleinen wurde leise und verstummte - für immer. Die Brust der Mutter war so unwirtlich kalt und ihre Milch versiegte. Windeln froren den Kleinen am Körper fest. Gnädig deckte die Natur ein weiches, weißes Schneetuch über das Bündelchen regloser Mensch, das da am Rand eines Treckweges abgelegt wurde. - Lärmend flogen Scharen von Krähen einher. Abwartend saßen sie in den nahen Bäumen. Die Fluchtstraße bescherte ihnen einen reich gedeckten Tisch, abgeworfener Hausrat, umgekippte Treckfahrzeuge und verendete Pferde.

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14 Millionen Deutsche waren auf der Flucht. Aber für die UN (UNO), die Nachfolgeorganisation des Völkerbundes, hat es diese Flüchtlinge nicht gegeben. - Seit 1973 ist auch Deutschland Mitglied dieser UNO. - Abweichend von der Atlantik-Charta, die seit 1941 besteht, sind (durch einen Zusatz aus dem Jahre 1944) die deutschen Vertriebenen ausdrücklich von der internationalen Flüchtlingsbetreuung ausgeschlossen worden.

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Bei der "humanen Umsiedlung" war jedem ein Stück Handgepäck erlaubt. Jedenfalls durfte er sich bis zum Verladebahnhof damit abmühen. Auf dem Bahnhof in Schlawe standen für den Abtransport geschlossene Güterwagen bereit. Ausgerüstet waren diese lediglich mit einem Bottich für die Notdurft. Keine Liegepritschen, nicht einmal Stroh, geschweige denn eine Heizmöglichkeit waren vorhanden. Etwa sechzig Personen, Frauen, Kinder, Alte und Kranke wurden in einen Waggon gepfercht. Vorher hatte man ihnen jedoch noch das gesamte Gepäck abgenommen. Mutti durfte noch nicht einmal die kalten Pellkartoffeln behalten, die sie in der Manteltasche hatte und wurde zum Abschied "deutsches Schwein" tituliert und angespuckt.

...

Doch um ein vielfaches bitterer war das Los all der Deutschen, welche von den Polen in eintausendzweihundertfünfundzwanzig Gefängnissen und Lagern gefangen gehalten und dort oft zu Tode gepeinigt wurden. Ihre "Schuld" bestand meistens nur darin, dass sie Deutsche waren. - Über all das, was diesen Menschen widerfuhr, wird von deutscher Seite aus offiziell der Mantel des Schweigens gebreitet. Unrecht und Verbrechen der Vertreibung sollen auf biologischem Wege, also mit dem Aussterben der Erlebnisgeneration, endgültig aus dem deutschen Bewusstsein verschwinden.

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In Niedersachsen suchte Vater Arbeit. Er bekam sie bei einem Bauern und Landwirt in Kl. Fredenbeck. Allerdings nur, weil er vorgab, von seiner Familie nichts zu wissen. Als diese jedoch einige Zeit später dort eintraf, wurde ihr eine Abstellkammer neben der Schankstube zur Verfügung gestellt. Die Schlafstatt waren zusammengestellte Stühle. Aus der Gaststube klang bis in den späten Abend der Lärm, wenn die Hiesigen "Hoch die Tassen" machten.

Vater bekam sein Essen von seinem Arbeitgeber, jedoch nichts für seine Familie. Vorerst gab es für diese auch keine Lebensmittelmarken, denn die Gemeinde sträubte sich, ihnen den Zuzug zu gewähren. Sie mussten betteln gehen. Vater selbst zog nach Feierabend und an Sonntagen in den umliegenden Orten bettelnd von Tür zu Tür. Wie entwürdigend muss er sich dabei vorgekommen sein, von früh bis spät zu arbeiten und damit noch nicht einmal die Familie ernähren zu können. - Vater war durch sein Naturell auf großzügiges Geben eingestellt.

Ja, die Flüchtlinge waren den Hiesigen ausgeliefert. Für viele von ihnen waren diese bettelarmen, abgerissenen Menschen Gesindel, mit dem man nichts zu tun haben wollte, dass man von der Tür fortjagte. Um des Überlebens Willen mussten die Flüchtlinge so manche Böswilligkeit hinnehmen.

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Eine Prozedur nach dem Krieg empfandZlomke als Erniedrigung und weigerte sich, sich ihr zu unterziehen.

Die Besatzungsmächte übten in ihrer Zone eine regelrechte Besatzungsdiktatur aus. Dabei war Deutschfeindlichkeit das Leitmotiv. Die Flutwelle der Charakterwäsche schwappte hoch. Hierzu gehörte auch die Entnazifizierung, das Nürnberg des kleinen Mannes. ... Einen sehr umfangreichen Fragebogen sollte jeder Erwachsene gewissenhaft ausfüllen. Danach erfolgte durch eine sogenannte Spruchkamer eine Einstufung. wie schuldig man sich zu fühlen hatte bzw. welche Sanktionen zu erwarten waren. In der amerikanischen Zone waren 3.3 Millionen Deutsche von der Maßnahme betroffen. Davon wurden hunderttausend in Lagern interniert und erfuhren dort eine Art Charakterwäsche. Die Entnazifizierung hat in der Geschichte keine Parallele. Durch sie sollte ein kollektiver Schuldkomplex erzeugt und bisherige Anschauungen revidiert werden.

Ich fand diese Aktion unwürdig und war nicht gewillt, mich von irgendwelchen Unberufenen als ‚.Belasteter" einstufen zu lassen. Den Amtsbescheid "Vom Gesetz nicht betroffen" hätte ich nicht erhalten. und auch gar keinen Wert darauf gelegt. War ich doch ohne mein eigenes Zutun Mitglied der NSDAP geworden. "Heil Hitler" hatte schließlich jeder Deutsche meines Alters gegrüßt und irgendeiner nationalsozialistischen Jugendorganisation angehört. Natürlich sang ich dadurch auch die damals markigen Lieder, wie "Es zittern die morschen Knochen" und wie sie sonst noch hießen mit. Dass ich dadurch eine Schuld auf mich geladen haben sollte, dazu in einem Alter, wo man noch kein politisches Bewusstsein entwickelt hatte, war für meine Begriffe absurd. Ich hatte mir nichts vorzuwerfen. Mich der Siegerwillkür unterwerfen und kriminalisieren lassen? - Ohne mich!

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Jedenfalls unterzog ich mich der Entnazifizierung nicht. Nach 1949 wurde dann diesem Spuk keine Bedeutung mehr beigemessen.

Später war Horst Zlomke die "Freiheit, nichts als nur meine Freiheit" geblieben - er hatte die Angebote eines einheimischen Mädchens nicht erwidert. Und dann wurde er Hilfspolizist beim "Kommando Link".

Ich musste eine Beschäftigung finden, bei der Unterkunft, Bekleidung und möglichst auch noch Verpflegung geboten wurde. Wieder Bauernknecht zu werden, schied aus. Mein Versuch, bei der Landespolizei anzukommen, scheiterte an deren hohen, gesundheitlichen Anforderungen. Also wieder einmal - "Der Dank des Vaterlandes ist - ein hinkender Esel".

Die Besatzer, die Engländer, stellten zum Schutz ihrer Objekte eine Hilfspolizei auf. Ich bewarb mich und wurde angenommen. In Nienburg-Langendamm, in dem dortigen Barackenlager, waren wir untergebracht und wurden im Schnellverfahren in den polizeilichen Grundbegriffen unterrichtet.

Alle waren wir ehemalige Wehrmachtsangehörige und steckten jetzt in abgelegten, schwarzgefärbten englischen Uniformen. Ein Holzknüppel war die einzige, uns zugestandene Waffe. Einsatzort war Hannover. In einem noch leidlich erhalten gebliebenen Kasernengebäude in Hannover-Varenwald waren Büro und Küche untergebracht. Die letztere konnte außer der üblichen Markenverpflegung zusätzlich täglich einen Liter Haferschleimsuppe spendieren. So großzügig war der neue Dienstherr. Das "Kommando Link", dem ich zugeteilt worden war - wir waren zehn Mann - nabelte man von dieser Küche vollkommen ab. Jeder von uns musste sich selbst verpflegen. Unser Einsatz erfolgte in Hannover-Kleefeld, in dem dortigen Villenviertel. Dieses Viertel mit seiner lockeren Bauweise war von der Bombardierung völlig verschont geblieben. Ein Großteil des Villenkomplexes musste von der deutschen Bevölkerung geräumt werden. Hier machten sich englische Heeres- und Verwaltungsoffiziere breit. Außerdem etablierten sich etliche Clubs. Der Exklusivste davon war der Shestnot-Club, Treffpunkt der Offiziere. Wir hatten hier zeitweise die Funktion des Türstehers wahrzunehmen.

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Unsere Aufgabe bestand darin, Tag und Nacht Streife zu gehen und Unbefugten - damit waren vor allem Deutsche gemeint - den Zutritt zu diesem von den Besatzern beanspruchten Areal zu verwehren. Am liebsten hätten die Briten damals Schilder angebracht mit dem Hinweis "Für Hunde und Deutsche verboten". - Tatsächlich war an einigen noch intakten Lokalitäten in der Stadt das Hinweisschild vorhanden "Zutritt für Deutsche verboten". Die Briten blieben eben ihrer kolonistischen Tradition treu und sonderten sich weitgehend ab. Wir waren für sie gleichsam eines ihrer Kolonialvölker.

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Schotter-Sheriff

Die Amerikaner hatten seit 1947 in Norddeutschland eine Enklave. das Land Bremen mit den Hafenstädten Bremen und Bremerhaven. Vor allem im Überseehafen von Bremerhaven wurden amerikanische Güter, unter anderem Lebensmittel, von den aus den Vereinigten Staaten kommenden Schiffen auf die Eisenbahn weiterverladen. Mit dieser wurden sie dann nach Süddeutschland in die amerikanische Besatzungszone transportiert. Die Not der deutschen Zivilbevölkerung trieb so manchen sonst ehrbaren Bürger dazu. Güterzüge zu berauben. Also - "erst kommt das Fressen, dann die Moral".

Um die amerikanischen Güter vor der Beraubung zu schützen, wurde eine Bahnpolizeitruppe aufgestellt, mit der Maßgabe, dass diese die Güter während des Bahntransportes beschützen sollte. Die Bewerbung zu dieser Bahnpolizeitruppe wurde durch das Versprechen schmackhaft gemacht, zu einem späteren Zeitpunkt in den regulären Eisenbahndienst überwechseln zu können. Ich bewarb mich und wurde eingestellt. So begann dann meine Laufbahn bei der Eisenbahn als "Schotter-Sheriff".

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Als Bahnpolizist in Hannovers Hauptbahnhof machte Horst Zlomke auch Streifengänge in die Unterwelt. Der Bahnhof war seit jeher ein beliebtes Jagdrevier der Damen vom Strich. So erfuhr der Polizist auch von Menschen, denen es noch schlimmer ergangen war als ihm selber. Auch Sabine, kaum sechzehn Jahre alt, hatte dort ihr Jagdrevier. Sie war in Königsberg geboren, ein Marjellche also. Mit ihrer Mutter und ihren beiden älteren Schwestern erlebte sie den Untergang dieser Stadt und erlitt die Rotarmisten. Sie war damals, als diese die Stadt eroberten, noch ein blasses, unscheinbares Mädchen gewesen, ohne jede weiblichen Reize. Ihre Mutter hatte die Flucht immer wieder hinausgezögert. Sie konnte sich nicht dazu entschließen, ihr Heim in der Cranzer Allee zu verlassen und wie viele tausend andere die Rettung über Pillau, also auf dem Seeweg, zu suchen.

Dann bestand schließlich diese Fluchtmöglichkeit nicht mehr, und es begann am 7. April der russische Großangriff. Durch den starken Artilleriebeschuss waren sie gezwungen, ihr Heim zu verlassen. Am 11. April 1945 machten sie zum ersten mal Bekanntschaft mit den Rotarmisten. Ihre Mutter hatte sie schützen wollen und sich für sie geopfert.

Doch dann kam ein alkoholisierter, blatternarbiger Asiate. Unter Gelächter und Anfeuerungsrufen anderer Rotarmisten hatte er sie brutal vergewaltigt. Sie fiel in Ohnmacht. Wie lange, sie wusste es nicht. Als sie wieder zur Besinnung kam. fühlte sie nur Schmerz, Blut und Ekel. Wie viele es gewesen waren - sie wusste es nicht. Um sie herum war ein bestialischer Gestank. Direkt über ihr hatte sich einer ihrer Peiniger erbrochen. - Von ihrer Mutter und ihren Schwestern hat sie nie mehr etwas erfahren.

Nur Sabine war mit dem Leben davongekommen und auf irgend eine Weise in Hannover gelandet. Doch ihr hatte die Familie als Hort der Ordnung gefehlt. vor allen Dingen die Mutter. Zuerst hatte sie sich aus Not und Hunger prostituiert und dann aus dem Glauben, zu nichts anderem fähig zu sein. ...

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Der - im wahrsten Sinn des Wortes - anrüchigste Reisezug. der damals verkehrte, war der "Heringszug". Ihm entströmte ein penetranter Geruch, der einem schier den Atem verschlug, auf jeden Fall jedoch meine Geruchstoleranz total überforderte. Dieser Geruch von ranzigem Tran und Fischgammel hatte sich unauslöschlich sogar im Holz des Waggons festgesetzt.

Wenn dieser Zug an den Werktagen morgens Hannover in Richtung Bremerhaven verließ, war er regelrecht mit Reisenden vollgestopft. Abends bei seiner Rückkehr, brachte er diese Menschenmassen wieder zurück. Sie waren jetzt im Besitz von mehr oder weniger großen Paketen mit Fisch, meistens Frischfisch. In Bremerhaven, im Fischereihafen, hatten sie diesen aus dunklen Kanälen durch Tausch ergattert. Mit den durchnässten und tropfenden Fischpaketen strebten sie jetzt glücklich dem heimatlichen Herd entgegen.

Das sogenannte Hamstern von Lebensmitteln war offiziell nicht erlaubt. Es wurden daher verschiedentlich Razzien durchgeführt. ... Einige Male wurde auch ich bei Zugrazzien eingesetzt. Ich brachte es jedoch nie fertig. jemanden den Rucksack mit Kartoffeln oder das Marmeladeneimerchen mit dem Sirup wegzunehmen. Diese Hamsterer waren keine kriminellen Naturen. Allein die nackte Not trieb sie zu diesen. oft mit erheblichen körperlichen Anstrengungen verbundenen Hamsterfahrten.

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In der alten Heimat

Im schönen Monat Mai des Jahres 1972 war ich, nach siebenundzwanzig Jahren, wieder in Ostpreußen und natürlich auch in Opitten. Mädi als meine Reisebegleiterin, besuchte zum ersten Mal die Welt meiner Kindheit. Sie war von der schlichten, etwas melancholischen Schönheit dieses Landes sehr angetan. Ostpreußen hat kein südländisches Flair, auch keine himmelsstürmenden Berge. Einem Ostpreußen sagt man ja auch nach, dass ihm bei Höhen über dreihundert Metern schwindlig wird. - Ich selbst fand das Land schöner, als es all die Jahre in meiner Erinnerung weitergelebt hatte. Die zahlreichen, oft kilometerlangen Alleen, die natürliche Fruchtbarkeit der näheren Heimat, die seidige, weiche Luft und der endlos blaue Himmel. dies alles erlebte ich jetzt richtig bewusst. Das lautstarke, vielstimmige Poggenkonzert erklang mir wie ein Willkommensgruß. - Traute Heimat.

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Und immer wieder drängt sich die Frage auf "Wie würde es wohl jetzt in Ostpreußen aussehen. wenn es deutsch geblieben wäre?"

Auf mich persönlich kann ich die nachfolgenden Zeilen beziehen:

Einst hatte man mir die Heimat genommen.
Einst war ich als Fremder hierher gekommen.
Ich braucht viel Zeit, um in Niedersachsen
Erst Wurzeln zu schlagen, dann anzuwachsen.
Oft dacht' ich daran, wo als Kind ich gespielt:
Denn die Heimat ist da, wo das Herze sie fühlt.


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