Zusammengestellt vom Ortsheimatpfleger Arnold Plesse.
Bearbeitungsstand: 07.01.2008
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Erinnerungen aus meinem Leben

Frieda Tienken, geb. Köster hat für ihre Kinder und Enkelkinder ihre Lebenserinnerungen in ein Buch geschrieben



Bild von Frieda Tienken
(Sie hat daraus auch anderen Menschen bereitwillig vorgelesen. Foto: agp 22.10.04)

Frieda Tienken wurde 2004 90 Jahre alt

Zu diesem Jubiläum schrieb die Nordsee Zeitung:

Lunestedt (agp). Frieda Tienken, geb. Köster wird heute 90 Jahre alt. "Ich verstehe gar nicht, dass ich so alt werde, wo ich doch so viel krank war", meint sie. Über ihr Leben sagt sie: "Es verlief nicht immer in geraden Bahnen. Es ist eine Mischung aus Sonne und Regen."
In der Veranda ihrer Küche erzählt sie in der Abendsonne aus ihrem Leben. Eigentlich erzählt sie mehr von ihrem Mann als von sich selbst. Und bei der Begrüßungsrede wird sie heute nachmittag in der "Alten Schmiede" in Beverstedt vor 60 Gästen sagen: "Ich hätte ja gerne, dass mein Jonny dabei wäre. Er wäre am 1. Dezember auch 90 geworden."
In Bokel wurde sie als zweites von drei Mädchen geboren. Danach kamen auf "Kösters Hof" noch drei Jungen. Die Eltern waren über ihren ältesten Bruder, den Hoferben, besonders glücklich. "Aber dann fiel er im Krieg." An den ersten Weltkrieg erinnert sie ein Familienfoto mit Konstantin, dem russischen Kriegsgefangenen auf dem elterlichen Hof.
Im 2. Weltkrieg erlebte Frieda Köster natürlich mehr. In den "Erinnerungen aus meinem Leben", die sie seit 1997 auf Bitten ihrer Kinder und Enkel aufgeschrieben hat, kommt auch die Nazi-Zeit vor, "als Deutschland am Boden lag".
Ihren Vater hat Frieda Köster als Soldat in Uniform in Erinnerung, der aus dem ersten Weltkrieg auf Besuch kam und sie auf dem Arm hielt. Das sei die "einzige zärtliche Regung" gewesen. Er hätte sich um seine Kinder gekümmert, es aber nicht gezeigt. Erst bei den Enkelkindern sei er ein "liebevoller Opa" gewesen.
In ihrem Leben habe sie so viel geweint, dass ihr lange Zeit die Tränen versiegten. - Aber das Lachen verlernte sie dennoch nicht. 26 Jahre habe sie auf dem elterlichen Hof gearbeitet, bevor sie auszog und nach Bremen ging.
Mit Jonny Tienken sei Frieda Köster zur Schule gegangen. Aber die Wege trennten sich, weil "ich ihn nicht wollte." Er wurde Seemann und schrieb ihr Briefe aus fernen Ländern. Erst 1946 sah sie ihn "mit anderen Augen". Er war Koch auf mehreren Schiffen gewesen und Chef einer Kapelle. Er spielte Geige, Gitarre, Zither sowie Quetschkommode. Mit fast 40 Jahren zog Frieda Köster von zu Hause aus. In zunächst ärmlichen Verhältnissen lebte sie in Bremen mit Jonny Tienken zusammen, der sich bei ihren Eltern nicht blicken lassen durfte. 1955 wurde ihre Tochter Karin geboren. Als sie drei wurde, übernahmen die Eltern Kantinen und Firmencasinos. Geheiratet haben sie erst 1975. In Bokel bauten sie 1968 ein Haus.
Ein zweites Haus wurde vor 14 Jahren in Lunestedt neben dem der Tochter errichtet. Ihr Mann hatte diesen Wunsch als erster ausgesprochen, und die Kinder waren überglücklich. Sie hatten vorher gedacht "Die gehen doch nicht aus Bokel weg." Frieda Tienken ist für jeden Tag glücklich, den sie in der Sonne in Lunestedt leben kann.


Frieda Tienken, geb. Köster hat für ihre Kinder und Enkelkinder ihre Lebenserinnerungen in ein Buch geschrieben

Sie können den Text hier im Internet lesen oder ihn als pdf-Datei herunterladen, wenn sie hier klicken!


(Allzu persönliche Passagen sind weggelassen worden.)


Wenn ich heute mit 82 Jahren so über mein Leben nachdenke, kommt es mir vor, als wäre es eine Mischung aus Sonne und Regen, aus Lachen und Weinen gewesen!

Ich will versuchen, auf Drängen meiner lieben Kinder, Enkelkinder, Nichten und Neffen ein wenig davon aufzuschreiben. Ich wurde am 26. Oktober 1914, am Anfang des ersten Weltkrieges, als zweites Mädchen meiner Eltern in Bokel geboren. ... Ob mein Vater bei meiner Geburt schon als Soldat im Krieg war, weiß ich nicht. Ich kann mich jedenfalls erinnern, als Vater eines Tages in Uniform auf Urlaub kam. Mutter kam mit ihm ins Schlafzimmer ("Kammer" sagte man früher), ich lag in Mutters Bett und bin dann ans Fußende gelaufen, und mein Vater hat mich auf den Arm genommen! Das war wohl die einzige zärtliche Regung von Vater, an die ich mich erinnern kann! Das soll aber nicht heißen, dass er nichts von uns, seinen Kindern, gehalten hätte - nur es fiel ihm sehr schwer, das zu zeigen!
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Inzwischen war unsere Familie auf 9 Personen angewachsen: Vater, Mutter, Oma und wir sechs Kinder. Allmählich wurde es in unseren vier Betten, die uns zur Verfügung standen, reichlich eng. Wir hatten zwar drei Stuben: die beste Stube, die zweitbeste Stube und die Wohnstube, aber nur zwei Kammern mit je zwei Betten!
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Jedes Jahr im Sommer kamen nacheinander die "Hamburger" und die "Hannoveraner" und verlebten ihren Urlaub bei uns. Wir Kinder freuten uns auf den Besuch, weil dann in der Wohnstube gegessen wurde und es immer was Gutes zu essen gab! Ich erinnere mich, dass wir einmal von Tante Anna aus Hamburg jeder eine ganze Tafel Schokolade bekamen. Das war schon ganz was Besonderes!
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Dass wir Kinder zu viert in einem Bett schlafen mussten, zwei am Kopfende und zwei am Fußende, hat uns nicht groß gestört.
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Mein Vater hat lange, lange warten müssen, bis Oma ihm den Hof überschrieben hat. ... Ich nehme an, dass der Hof damals wohl ziemlich heruntergewirtschaftet war, denn das Geld war immer knapp bei uns! Wie oft mussten wir Kinder, von Oma gechickt, hinter Vater herlaufen, bis wir die paar Groschen für ein Pfund Salz oder Zucker bekommen haben. Vater mochte gern gut essen, nicht immer nur das Übliche wie bei anderen Bauern - jeden Tag Suppe: Erbsensuppe, Bohnensuppe usw. und abends grundsätzlich Bratkartoffeln und Milchsuppe! Bei uns gab es bestimmt einmal in der Woche zwar auch Bratkartoffeln, aber statt Milchsuppe gab es Kakao und Butterbrot dazu! Wenn ich heute bedenke, mit wie wenig Geld wir früher im Haushalt ausgekommen sind -- !! Aus unserem großen Garten ernteten wir alles Gemüse, was wir im Winter brauchten: Erbsen und Bohnen - frisch eingeweckt und getrocknet für Suppen. Im Keller standen zwei große Steintöpfe, einer für Salzbohnen und der andere für Sauerkraut! Den Weißkohl dafür holten wir uns von Stegen, "Hof Seebeck". Im Winter wurden 3 - 4 Schweine geschlachtet. Ich erinnere mich, dass wir einmal eine schwarz-weiße Sau, die 6 Zentner wog, geschlachtet haben. Das gab natürlich viel dicken, fetten Speck und große Steintöpfe Schmalz. Zum Braten und Backen haben wir immer nur unsere selbstgemachte Butter und Schmalz genommen. Margarine gab es damals zwar schon, aber die kostete ja Geld, und das hatten wir nicht! Unser Haushalt wurde hauptsächlich von Eiern bestritten, die wir gegenüber bei Kaufmann Bornemann gegen Ware eintauschten. ... Viel später, als wir erwachsen waren, haben wir das Tauschgeschäft im größeren Stil abgewickelt. Da ging es dann um ganze Zentner Korn, die unser Schwager ... gegen Geld eintauschte.
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Was natürlich ganz wichtig war: wir hatten eine liebe, gute Mutter, die uns, soweit es in ihrer Macht stand, immer gut versorgt hat. Wenn unsere Mutter nicht so gut hätte nähen und stricken können, hätte es oft schlecht für uns ausgesehen. Von den Bremer Verwandten, die fast alle gut betucht waren, bekamen wir oft abgelegte Kleidung, aus der Mutter für uns Mädchen Kleider und für die Jungens gut sitzende Hosen nähte. Mit Schuhzeug sah es allerdings oft schlecht aus! Alltags trugen wir Holzpantinen, die er alte Opa Betjemann machte! Aber auch damit sah es oft schlecht aus, und es ist sogar vorgekommen, dass einer von uns Kindern nicht in die Schule gehen konnte, weil er kein Schuhzeug hatte. Ich habe damals oft die Mädchen in meiner Klasse beneidet, die zwar keinen großen Bauernhof hatten wie wir, dafür aber schicke, gekaufte Klönken trugen. Überhaupt muss ich sagen, dass wir Kösters Kinder doch sehr bescheiden erzogen wurden! An gekauftes Spielzeug kann ich mich kaum erinnern. Käte und ich hatten uns mal zu Weihnachten eine Puppe gewünscht, und als Mutter dann in Bremerhaven gewesen war, haben wir heimlich danach gesucht. Wir fanden dann auch zwei kleine, niedliche Porzellanpüppchen mit zu Schnecken gedrehtem echten Haar. Die Freude war natürlich groß! Im Sommer haben wir am liebsten Mutter und Kind gespielt. Die Mutter war immer unsere Freundin Annemarie Bornemann. Mit viel Geschick haben wir uns unter großen Büschen unsere Spielhäuser gebaut! Einmal, kann ich mich erinnern, haben Vater und Mutter an einem Sonntag für uns ein richtiges Spielhaus gebaut! Aus vier langen Pfählen und alten Latten, durch die schöne grüne Buchenzweige gezogen wurden, entstand ein richtiges quadratisches, dichtes Haus. Wir Kinder haben es mit Mutters Hilfe schön eingerichtet und einen herrlichen Sommer darin verlebt.

Als wir dann so weit waren, dass unsere Kräfte dazu reichten, mussten wir natürlich bei der Heu- und Kornernte helfen. Dass mir das Spaß gemacht hat, kann ich nicht sagen - aber danach wurden wir nicht gefragt! Dass ich schon als kleines Mädchen mit Mutter zum Melken gegangen bin, wenn unsere Kühe in der Weide an der Bahn liefen, kann ich heute nicht mehr begreifen. Ich habe dann mit einem Kessel (einen Eimer hätte ich noch nicht tragen können) stundenlang auf Knien oder in der Hocke unter einer bestimmten Kuh gesessen und gemolken. Ich nehme an, dass die Kuh wohl schon ziemlich alt war, eine jüngere hätte das sicher nicht mitgemacht. Den Rest musste Mutter natürlich nachmelken. Aber ich war doch so stolz, dass ich schon melken konnte! ... Dass ich später 26 Jahre lang an Sonn- und Feiertagen täglich dreimal melken musste, war wohl die Strafe dafür, dass ich mich so früh danach gedrängelt habe! Wie auch immer: das Gute daran war, dass ich immer an der frischen Luft war - und das nicht nur beim Melken, sondern auch bei sämtlichen Feldarbeiten. Wenn ich an die Kartoffelernte denke, läuft's mir heute noch kalt den Rücken runter! Vater war bei allen Arbeiten ein rücksichtsloser Antreiber. Beim Kartoffelroden brauchten wir auch fremde Leute, die zu zweit ihr zugeteiltes Stück aufsuchen mussten. Weil Vater beim Ausroden immer ein höllisches Tempo drauf hatte, wurden viel Kartoffeln einfach in die Erde getreten. Das Ende vom Lied war deshalb, dass wir das ganze Feld noch zweimal hinter der Egge nachsuchen mussten! Damit aber noch nicht genug: wenn das Feld gepflügt wurde, und das war meistens erst im November und schon bitter kalt, mussten wir noch wieder mit einem Eimer bewaffnet hinter dem Pflug herlaufen und die restlichen Kartoffeln aus der Erde buddeln!
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Im Jahre 1927 wurde unsere Schwester Käte, die Älteste, am Gründonnerstag konfirmiert. An dem Tag kam die ganze Verwandtschaft aus nah und fern. Unsere drei Stuben waren voll besetzt, und es wurde tüchtig aufgetischt. Unsere Mutter verstand es damals schon, alles mit viel Liebe und Geschick vorzubereiten. ... Wir machten damals jedes Jahr große Mengen Johannisbeerwein, der allerdings ohne Zuckerzusatz sehr sauer war. Ich erinnere mich, dass zu Kätes Konfirmation ein Teil von dem Wein mit Zucker und Nelkenköpfen aufgekocht wurde und somit sehr lieblich schmeckte - beinahe wie Likör. Wenn der Haupttag vorbei war, war damit die Feier aber noch lange nicht zu Ende! Bis über Ostern hin bekamen wir noch täglich Besuch von Nachbarn, Freunden und Bekannten. Wir wussten aber nie, wann wer kommt. Und so wurde die beste Stube jeden Morgen wieder sauber gemacht und der Ofen angeheizt, der ein grünes Sichtfenster hatte, durch das man die Flammen so schön sehen konnte. Das waren wunderschöne Tage für uns Kinder, aber auch ganz besonders für unsere Oma, die dann so richtig in ihrem Element war. Diese Feiern wiederholten sich noch fünfmal, und alle hat Oma miterleben dürfen. Bei allen Konfirmationen begrüßte sie immer weinend die Gäste - aus Angst, dass sie die nächste nicht mehr erleben könnte!
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Einmal in einem heißen, trockenen Sommer kamen Else und ich abends zum Melken in der Weide "im Kluten" an. Die Grenze zur Nachbarweide bildete ein kleiner Bach, die Billerbeck. Ich wollte unsere Melkschemel holen, die am Abhang dieses Baches lagen - und traute meinen Augen nicht, was ich da sah! An dieser Stelle lag ein dicker Balken quer im Bach, so dass sich das wenige Wasser dort staute. Unterhalb dieses Balkens lagen Kieselsteine, kaum noch mit Wasser bedeckt. Und auf diesen Kieselsteinen tummelten sich, oh Wunder, jede Menge dicke Hechte und Aale. Für mich stand gleich fest, dass wir diese wertvollen Fische nicht einfach dort verenden lassen könnten! Wer aber sollte sie fangen? Else weigerte sich konsequent - also war ich wieder dran. So habe ich dann all meinen Mut zusammengenommen, von dem ich eigentlich nie zuviel hatte, und bin in die "Höhle des Löwen" gestiegen. Oh Schreck - was hatten die Hechte für ein riesiges Maul mit unheimlich vielen spitzen Zähnen! Mir war klar, dass ich sie mit beiden Händen hinter dem Kopf packen musste. Das habe ich getan, und so wanderte einer nach dem anderen in meinen großen Milcheimer. Die Aale habe ich leider ihrem Schicksal überlassen müssen. Ich mag zwar geräucherte Aale sehr gern essen, aber die lebenden zappelnden Tiere, die so aussehen wie Schlangen, hätte ich nicht anfassen können. Da ich den Eimer natürlich zum Melken brauchte, musste ich die Hechte erst nach Hause bringen. Am nächsten Tag gab es dann gespickte Hechte, die unsere Mutter zur köstlichen Delikatesse zubereitet hatte.

So gingen die Tage und Jahre mit viel Arbeit dahin. Das Beste vom Tag war für uns der Feierabend. Wenn wir abends gegessen hatten, zogen sich die Eltern und Oma in die Wohnstube zurück. Wir Mädchen mussten noch abwaschen, und dabei leisteten uns die Brüder Gesellschaft. Dann wurde gesungen - dreistimmig! Es war, als ob der Gesang für uns Kösters Kinder selbstverständlich zum Leben dazugehörte. Im Sommer stand das Küchenfenster immer offen, und da sich gegenüber bei Bornemanns abends viel Dorfjugend traf, hatten wir immer begeisterte Zuhörer. Wir hatten damals einen Knecht, der erzählte oft, wenn er am Tage mal Ärger mit Vater gehabt hätte und abends dann unseren Gesang gehört hat, wäre aller Ärger vergessen gewesen. Dass auch unser Vater sich für unser Singen interessiert hat, haben wir damals nie erfahren. Viel, viel später im Krieg, als ich schließlich noch allein von uns sechsen im Haus war, kam Vater eines Abends zu mir in die Küche und fragte mich, ob ich denn nicht auch allein singen könnte. Da wusste ich, dass er unseren Gesang auch gern gehört hatte! Warum hatte er es uns damals, als es noch früh genug war, das nicht mal gesagt? Da habe ich geweint.
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Eine der schönsten Erinnerungen an meine Jugend sind die Feste und Bälle, an denen ich tanzen konnte. Ich war immer eine leidenschaftliche und wohl auch gute Tänzerin, denn ein Mauerblümchen bin ich nie gewesen! Ich erinnere mich, dass ich einmal am Montag eine Karrte von einem netten Tänzer bekam. Er schrieb: "Meiner liebsten, schönsten und elegantesten Tänzerin vom Maskenball zu Stubben sende ich in dankbarer Erinnerung tausend freundliche Blaue-Montags-Grüße." Das fand ich besonders nett, weil ich ihm doch einen Korb gegeben hatte! Später war in Stubben öfter mal sonntags Tanz. Dafür brauchten wir von Vater 50 Pfennig Eintritt. Das zu bekommen war meistens ein Drama und oft mit viel Tränen verbunden.
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Über die "Hitlerzeit" will ich nicht groß schreiben. Ich weiß, dass viele der heutigen Generation uns, die wir damals die junge Generation waren, für alles Schlimme verantwortlich machen, was damals passiert ist. Tatsache ist, dass Deutschland total am Boden lag, als Hitler die Macht übernahm. Ich kann das beurteilen, weil ich wirklich die schwere Zeit hautnah miterlebt habe. Man kann es Hitler nicht absprechen, dass er Deutschland wieder zur Blüte gebracht hat. Nur so kann man doch wohl die Begeisterung verstehen, die ihm überall entgegenschlug! Von den Konzentrationslagern haben wir natürlich später erfahren. Auch von dem Judenhass hörten wir bald. Aber, das schwöre ich, was sich wirklich in den Konzentrationslagern Entsetzliches abgespielt hat, haben wir erst nach dem Krieg erfahren. Selbst wenn wir es damals gewusst hätten, hätte sich doch keiner getraut, öffentlich auch nur ein Wort darüber zu sagen. Denn das war uns wohl im Laufe der Jahre klar geworden: wer auch nur ein Wort gegen das Hitlerregime sagte - und der Richtige hörte es -, der wanderte ins KZ. Das war für uns zwar ein besonders hartes Gefängnis - aber mehr wussten wir nicht darüber.

Dann kam der Krieg! Am 1. September 1939 griffen deutsche Soldaten Polen an! Das war für uns alle ein großer Schock. Es wurde zwar schon länger davon gemunkelt, aber dass es mal Wirklichkeit werden könnte, wollten wir einfach nicht glauben! ... In Bokel wurde eine Einheit zusammengestellt und man hat gleich gemerkt, dass alles bis ins Kleinste vorbereitet war. ... Vom Krieg merkten wir sonst eigentlich noch nichts, und so haben wir mit den Soldaten noch viel gelacht und gescherzt. Vor feindlichen Flugzeugen brauchten wir ja keine Angst zu haben! Der Generalfeldmarschall Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, hatte uns doch versprochen: "Wenn auch nur ein feindliches Flugzeug die deutsche Grenze überfliegt, will ich ‚Meyer' heißen." Wir brauchten leider nicht lange warten, bis er nur noch "Hermann Meyer" hieß. An die Verdunklung, die natürlich sehr wichtig war, haben wir uns schnell gewöhnt. Ebenso an die Lebensmittelkarten, die dann urplötzlich auftauchten und verteilt wurden. ... Ich habe nie in meinem Leben so viele Briefe geschrieben wie in den Kriegsjahren. Auch viele, viele liebevoll gepackte Pakete mit haltbaren Sachen habe ich unseren beiden Soldaten an die Front geschickt. ... Es muss wohl immer ein Freudentag für unsere Brüder gewesen sein, wenn sie so ein Paket bekommen haben - was die begeisterten Dankesbriefe bewiesen! Der erste aus Bokel, der kurz vor Weihnachten fiel, war ein Familienvater, ... , mit vier oder fünf Kindern. Für mich stand gleich fest, dass man zu Weihnachten für die Kinder was tun müsste!

Ich erinnere mich noch an den ersten Fliegeralarm. Ich glaube, es war ein Sonntag. Wir sind dann in unseren alten Keller geflüchtet, der wirklich keinerlei Sicherheit bot, und die Flugzeuge donnerten über uns auf die Bahn zu, die im Laufe der ganzen Kriegsjahre immer wieder angegriffen wurde. Ich weiß noch, dass ich damals furchtbare Angst hatte und immer wieder dachte: "Wie soll man das nur aushalten?!" ...
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Im November kam unser Heini noch mal wieder auf Urlaub. Sie lagen damals ganz friedlich vor Leningrad. Er erzählte, dass sie mit dem Fernglas ein ganz normales Leben in der Stadt beobachten könnten. Unser Vater war keineswegs beruhigt darüber - er meinte ahnungsvoll, dass das wohl die Ruhe vor dem Sturm wäre. Und er sollte Recht haben! Wir machten uns aber noch nicht so große Sorgen, weil Heini uns erzählte, dass er gleich nach seiner Rückkehr an die Front an eine Offiziersschule in Deutschland kommen sollte.
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Ich weiß nicht mehr genau, wann wir die furchtbare Nachricht bekamen, dass unser geliebter Heini am 24. Januar 1944 gefallen ist. Wir waren alle wie gelähmt! Die Gewissheit, dass wir unseren Heini nie wieder sehen würden, war so unvorstellbar und einfach nicht zu begreifen! Ich habe damals immer nur gedacht, dass ich in meinem ganzen Leben nie wieder würde lachen können. Als ich dann aber doch nach langer Zeit mal wieder gelacht habe, hatte ich ein ganz schlechtes Gewissen. Um Vater haben wir manchmal Angst gehabt, dass er wahnsinnig werden könnte vor Schmerz um den Verlust seines ältesten Sohne, des Hoferben!
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Ich weiß nicht mehr genau, wann die furchtbare Zeit der Flüchtlinge aus dem Osten begann. An einen Sieg glaubte inzwischen wohl kein Mensch mehr, obwohl uns das vom Führerhauptquartier über Rundfunk täglich eingehämmert wurde. Man vertröstete uns auf eine "Wunderwaffe", die bald eingesetzt das Blatt wenden sollte. Der Feind rückte immer näher, und wir bekamen jeden Abend Flüchtlinge zur Übernachtung, die dann am nächsten Morgen weiterzogen. Wir haben in der Wohnstube den Fußboden mit Stroh ausgelegt, ich nehme an, dass die Flüchtlinge das Bettzeug wohl bei sich hatten. Ich habe jeden Nachmittag einen großen Topf kräftigen Kartoffeleintopf mit Speck gekocht, womit ich den armen Menschen wohl eine große Freude gemacht habe. Später habe ich von einigen erfahren, dass sie nicht überall so gut verpflegt worden sind wie bei uns. Irgendwann bekamen wir dann unsere feste Einquartierung. Unsere beiden besten Stuben wurden belegt. In die eine zogen Oma und Opa Kraft ein, zwei liebe alte Leute, und in die andere die Schwiegertochter Frieda Kraft, deren Mann vermisst war. Wir haben uns mit den Krafts immer gut verstanden. Wie oft hat Oma Kraft uns eine Probe von ihren bessarabischen Gerichten gegeben, die uns immer wunderbar geschmeckt haben! Sie hatten in unserem sehr kalten Keller eine große Milchkanne abgestellt, die mit gebratenem Schweinefleisch gefüllt war. Ich sehe Oma Kraft noch vor mir, wie sie mit einem Teller in der Hand in den Keller geht und von dem Fleisch holte, das dann immer wieder mit Bratenschmalz luftdicht abgedeckt wurde, damit es haltbar blieb.
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Am 8. Mai 1945 war endlich der Krieg vorbei! Wir hatten ihn zwar verloren, aber an den Gedanken hatten wir uns doch schon längst gewöhnt. Allein die Gewissheit, es würden keine Bomben mehr fallen, es gab keinen Fliegeralarm mehr, wir konnten uns abends endlich ohne Angst ins Bett legen, war für uns eine Seligkeit, die ich nicht beschreiben kann! Wenn wir aber geglaubt hatten, dass jetzt wieder ein normales Leben beginnen könnte, hatten wir uns mächtig geirrt. Es kam die Besatzung! Ein englischer Offizier, der zwar gut deutsch sprach, aber ein knallharter Deutschenhasser war, machte Quartier. Weil unsere Oma damals krank im Bett lag, durften wir im Haus bleiben, aber nur die eine Seite des Hauses bewohnen. ... Nur Oma hatte ein Bett, wir anderen 11 Personen haben alle in zwei Zimmern verteilt auf dem Fußboden geschlafen. ...
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Trotz Beendigung des Krieges war die Zeit der Lebensmittelkarten leider nicht vorbei, und in den Städten ging das Hungern weiter. Das Geld war praktisch wertlos geworden. Es begann das Tauschgeschäft. Immer wieder kamen Leute aus der Stadt zu uns auf den Hof und boten uns irgendwelche Sachen zum Tausch gegen Kartoffeln, Brot oder auch mal ein Stück Speck an. Ich denke, dass bei uns keiner mit leeren Händen gegangen ist. Ich hatte damals schon die Küche übernommen, und auch unsere Mutter hatte ein großes Herz! - Irgendwann begann die Zeit des Schnapsbrennens. Es war zwar strafrechtlich verboten - aber was war damals nicht alles verboten! Ich erinnere mich noch, als Vater eines Abends den ersten Roggenschnaps im Wecktopf auf dem Herd brannte. Es kam mir wie ein Wunder vor, als wirklich Schnaps aus dem Schlauch tropfte! Später wurde dann auch Zuckerrüben und in größerem Stil gebrannt, aber das hat Vater von anderen machen lassen.
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Ich will einfach mal dazwischen schieben: Autos sah man damals so gut wie nie. Dafür fuhr täglich eine mit zwei Pferden bespannte Postkutsche durch Bokel, die von Hagen zum Bahnhof Stubben (und zurück) fuhr. Das war für uns Kinder jedes Mal ein Erlebnis! Wenn der Kutscher uns nicht sah, sind wir oft auf den Tritt gesprungen und ein Stückchen mitgefahren. Auch elektrisches Licht gab es damals noch nicht, Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich zum ersten Mal den Schalter drehen durfte und das Licht anging, ohne dass wir Streichhölzer dazu brauchten. Das war für alle ein Wunder! ...
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Den Anschluss an die Nachkriegszeit zu finden, ist gar nicht so einfach für mich. Wir hatten sechs lange Jahre von unserer Jugend durch den Krieg eingebüßt und mussten uns erst allmählich wieder an den Frieden gewöhnen. Ich war inzwischen 31 Jahre alt geworden und noch immer ledig. Eigentlich schon ein altes Semester, aber ich fühlte mich noch jung und es erwachte doch recht schnell die Lebensfreude wieder. An Tanzvergnügen war noch nicht zu denken. In Hagen war noch die MP (= Militärpolizei) stationiert, die dafür sorgte, dass abends nach 10 Uhr keine Menschenansammlungen mehr stattfanden. Außerdem war Gerdaus Saal noch mit Möbeln von ausgebombten Familien belegt. Ich erinnere mich, dass wir Nachbarskinder damals abends manchmal aus lauter Freude am Leben singend die Dorfstraße entlang gezogen sind.
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